Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
Vom Netzwerk:
aßen zusammen an dem kleinen Tischchen, er im Unterhemd und sie in Spitzenhemdhöschen.
    Er hatte den Semesterbeginn verpasst, und so hatte er zusätzlich zum Unterrichten noch eine Schicht in einer Flaschenfabrik angenommen. Sie arbeitete weiter als Sekretärin. Sie arbeiteten, kamen nach Hause, stritten sich, schliefen und arbeiteten. Das ganze Frühjahr hindurch und bis in den Frühsommer hinein ging sie ihm mit Szenen und Tragödien auf die Nerven. Dennoch hielten sie sich jede Nacht aneinander
fest, in dem schmalen Bett, das eigentlich für eine Person gedacht war. Er hing auf der Kante, sie lag an der Wand. Das Bett war wie ein kleines Fischerboot in einem großen, unsicheren Meer.
    Am Tag, als der Krieg ausbrach, gingen sie hinter Chingford auf dem Land spazieren. Ein Mann rief ihnen die Nachricht aus einem vorbeifahrenden Wagen zu.
    »Runter! Runter!«, rief er. »Wissen Sie nicht, dass Krieg ist?«
    Sie sprangen in einen Graben, aber als sie nach fünf Minuten feststellten, dass nichts geschah, krabbelten sie wieder hinaus und gingen nach Hause.
    Mit dem Beginn des Krieges veränderte sich etwas in ihm: Er hing mehr an ihr, sprach von Liebe, erklärte sich in einer Weise, in der er es nie getan hatte. Er schien abgesonderter und verletzlicher, meldete sich monatlich auf dem Polizeirevier und legte seine Papiere mit dem Stempel »Alien« vor.
    Beunruhigt beobachtete er, wie Freunde in Deutschland deportiert wurden. Die Behörden bewahrten ihn vor diesem Schicksal, aber bei der Armee wurde er abgelehnt. Er war gezwungen, danebenzustehen, während andere für seine Sache kämpften. Vielleicht war es am Ende dies, woran er zerbrach: nicht, dass er den Kontakt zu seiner Familie verlor, was schon unerträglich war, oder dass er wegen des Krieges nicht studieren konnte. Vielleicht war es vielmehr der endgültige Verlust seiner Männlichkeit, die Bestätigung, dass es für ihn jetzt zu spät war; dies und die Jobs, die er annehmen musste: entwürdigend, ermüdend, stumpf, schlecht bezahlt, demütigend.
    Und so wehrte er sich nicht mehr, als sie Ansprüche anmeldete. Er ging nicht darüber hinweg, wenn sie über eine gemeinsame Zukunft sprach. Er entspannte sich unter ihrem
Zugriff, hörte auf zu hadern. Als sie von Hochzeit sprach, machte er keine Scherze mehr.
    Mit dem Beginn des Blitzkriegs wurde sein Abendunterricht gestrichen. Sie konnten sich die Miete für die Dachwohnung nicht mehr leisten. Sie zogen von Clapham nach St. Albans und von St. Albans nach Southend on Sea. Sie arbeitete als Sekretärin für das Flüchtlingskomitee. Er belud Waggons und pflanzte Bäume.
    Im Frühling einundvierzig waren sie in Henley-on-Thames gelandet, wo sie aus Gründen der Schicklichkeit getrennt wohnten. Er war inzwischen arbeitslos, bezahlte die Miete von seinen mageren Ersparnissen und lebte von dem, was sie von ihrem Sekretärinnenlohn abzweigte. Er war in einer Sackgasse: Sein ganzes Leben schien ihn in dieses letzte Schlupfloch getrieben zu haben, in dieses ehrbare Wohnheim in einer ehrbaren Straße, wo er sich wie ein Betrüger in seinem luftlosen, plüschigen Zimmer versteckte, das bis in den letzten Winkel mit Möbeln und billigem Chintz vollgestopft war. Er wusste, dass er von seinen letzten Shillings lebte, und zählte die Tage, bis die Farce ein Ende fand und er auf die Straße gesetzt würde. Dann würde er ziellos herumwandern, wie es seine Bestimmung war, verkommen und sterben, endlich, wie er es tief in seinem Innersten schon immer gewollt hatte. Es war die gerechte Strafe für eine große Fehlentscheidung.
    Als der Frühling zum Sommer heranreifte, traf er sie am Fluss, wenn sie von der Arbeit kam. Sie wirkte gelassen und fröhlich, wie aus einem Seemannslied entsprungen: schön, entspannt und zum Wetter passend gekleidet, während er in seiner dunklen Winterhose herumschlurfte, seiner einzigen, die am Saum geflickt war. Sie lächelte, wenn sie ihn sah, und entblößte ihre perfekten Zähne: Und ihr gelassenes Strahlen färbte für einen Moment oder länger auf ihn ab.

    Jeden Abend, während es wärmer wurde, die Blätter dunkler und das Gras wuchs, als die Blüten dem Laub wichen und die Knospen der Weidenröschen aufblühten und zu Federn wurden, gingen sie am Fluss entlang und setzten sich und beobachteten die Schwäne. Sie sprach über die Zukunft, und er hörte zu. Und als sie von Hochzeit sprach, wandte er nichts ein.

Sechstes Kapitel
     
    Tag für Tag stehen fromme Männer vor der Tür meines Onkels

Weitere Kostenlose Bücher