Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Juwelen am Grunde des Wildbachs, die sich als Glasscherben entpuppten.
»Ach der. Er ist gerade erst aus Palästina gekommen. Er heißt Amnon.«
Für alle anderen war sie das Mädchen mit dem Stipendium. Sie besuchte die Highschool; sie nahm Sprechunterricht. Sie konnte die Schlafwandel-Szene aus Macbeth rezitieren und auf Französisch ein Brot kaufen. Sie war anders als die anderen.
»Sieht schon gut aus, oder? An deiner Stelle würde ich zusehen, dass ich da rankomme.«
Einmal hatte sie ihren Vater gefragt, was es bedeute, Jude zu sein. Sie waren in seiner Werkstatt unten an der Bahnlinie und nahmen sein geliebtes Motorrad auseinander. Sie machten
eine Teepause; er saß auf einem Barhocker, und sein Gesicht war ölverschmiert. Ein Jude sei so etwas wie ein umherwandernder Geist, sagte er. Juden seien Sündenböcke, aber sie seien nicht die einzigen. Er hatte nach Russland gehen und Bolschewik werden wollen, aber er musste hierbleiben und Mam heiraten. Und jetzt wollte er verdammt noch mal einen Haufen Geld verdienen. Es lag eine Bruderschaft im Leiden, aber irgendwann musste jeder seine Familie verlassen und weiterziehen; was vermutlich der Grund war, warum er seinen Namen von Chaim Losowsky in Harry Lister änderte. Dad hatte an die sozialistische Utopie geglaubt, aber jetzt, fand er, müsse jeder für sich selbst sorgen. Auf dem Bücherregal zu Hause stand eine Ausgabe von Das Kapital neben den Romanen von Jack London, die er immer wieder las, aber von seinen Idealen war nichts übrig außer den Arbeiterliedern, die er beim Rasieren vor sich hin sang, durchsetzt mit Arien aus den großen Opern, die er liebte.
Sie saß in der Runde, hob herausfordernd das Kinn und sang die zionistische Arbeiterhymne mit geballter Faust. Ihr Blick war starr auf seine Lippen gerichtet: breit, blass, mit einer Narbe darin.
We swear it, we swear it
Our oath mixed with blood and tears
Enough, enough, in exile to stay!
Take courage, take courage, to battle for freedom
With courage, with courage, go forth to the fray!
Es überraschte sie nicht, dass er den Text nicht konnte.
Dad war inzwischen in jeder Hinsicht Engländer. Er hatte sogar einen englischen Akzent. Lister klang nach dem Lister Park in Bradford und nach Joseph Lister, dem berühmten Chirurgen. Dad trug eine Tweedweste und eine
flache Schiebermütze, er hatte drei Pfeifen in einem Ständer auf dem Kaminsims, Shorty, Blacky und Special, und es war ihre Aufgabe, Hazels, ihm eine auszusuchen, wenn er von der Arbeit kam.
Die Listers waren stolz darauf, Engländer zu sein. Manchmal, wenn das Motorrad zusammengebaut war, machten sie Ausflüge aufs Land und fuhren zelten und angeln. Mam und Hazel fuhren im Beiwagen mit. Mam trug ein blaues Gazekopftuch, um ihre Frisur zu schützen, und hielt eine große Handtasche auf dem Schoß umklammert. Hazel spürte den Wind im Gesicht und dachte: Ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei. Es war die Art Sinnestäuschung, die sie ihr ganzes Leben lang in die Irre führen sollte.
»Soll ich ihn dir vorstellen?«
»Nein danke. Das kann ich schon alleine.«
Sie hatte sorgfältig Buch darüber geführt, was sie gelesen hatte, und in dem Jahr, als sie vierzehn wurde, zählte sie hundertsechs Romane. Sie war den Klassikern verfallen, vor allem englischen Liebesromanen. Auf einer Wiese zu sitzen und die Beschreibung einer Wiese zu lesen war ihre Vorstellung vom Paradies.
Für Mam ging das Praktische über die Schönheit, und sie sagte, das sei nun mal so, wenn man arm ist. Hazel trug eine zweckmäßige Frisur, die so gerade bis über die Ohren ging, ihre schweren, braunen Strumpfhosen waren an den Fersen gestopft und ihre Figur von Schmalzbroten und Kakao gerundet. Mam konnte weder lesen noch schreiben, aber sie wusste, dass Lehrbuchwissen eine Eintrittskarte darstellte, und ermunterte ihre Tochter zum Lernen. Sie bewahrte Hazels Schulzeugnisse allesamt in einer leeren Pralinenschachtel auf, zusammen mit den Schwimmabzeichen. Und sie schickte sie zur jüdischen Jugendgruppe, obwohl dort lauter Zionisten und Fanatiker waren, denn wer weiß, vielleicht
würde sie dort einen netten jungen Mann treffen und vielleicht, eines Tages, heiraten. Hazel Lister hatte das Gesicht einer Herzensbrecherin, und in der Jugendgruppe brach sie die Herzen zahlloser netter junger Männer. Aber sie war für sie alle zu gut: Sie packte ihre Zeugnisse ein und ging nach London. Sie mietete sich ein Zimmer in einem Wohnheim mit fünfzehn jüdischen Frauen und
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