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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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fand eine Stelle als Stenotypistin im Hammersmith Palais de Danse. Sie warf ihre braunen Strumpfhosen fort und kaufte ihre ersten Nylons.
    Zu dieser Zeit glaubte sie noch, London sei, wie auch der Rest der Welt, ein Rätsel, das man lösen könnte. Wenn sie nur verwegen genug wäre, würde die Stadt sich ihr öffnen wie eine komplizierte Blüte. Sie merkte nicht, dass das Geheimnis bestehen bleiben und sie sich nur daran gewöhnen würde. All das Leben, dieser Dynamo der Geschehnisse, wäre schließlich nur noch ein Geräusch in ihrem Hinterkopf.
    Aber am Anfang war es, wie ein Buch zu lesen. Wie alle Egoisten stellte sie sich ihr Leben als Drama vor, in dem sie die Hauptrolle spielte. In einem Café zu sitzen und die Beschreibung eines Cafés zu lesen war ihre Vorstellung von Erfahrung.
    »Dann fackel nicht lange, sonst ist der Zug abgefahren.«
    Sie stand jetzt auf eigenen Füßen. Sie hatte ihr Haar zu einem glatten Helm mit einer Girlande schimmernder Löckchen gebändigt, und sie trug maßgeschneiderte Kleider mit Knöpfen vorne. Ihr nördlicher Akzent war verschwunden. Sie war ein Chamäleon. Sie passte ihren Akzent nach und nach der Londoner Vornehmheit an und behielt ihren eigenen bei, wenn sie mit der Londoner Arbeiterschicht sprach. Sie rauchte gelegentlich und imitierte dabei die Diven aus dem Kino, die durch Rauchvorhänge Männer anlächelten. Sie übte ihren Gesichtsausdruck vor dem Spiegel:
den übertriebenen Schmollmund, die hochgezogenen Augenbrauen und vor allem das tonlose Lachen mit nach hinten geworfenem Kopf, das ein sexuelles Wissen vermuten ließ, das sie noch nicht hatte. Mit der Zeit wurden diese unnatürlichen Gesten automatisiert: Dreißig Jahre später, als sie längst nicht mehr modern waren, benutzte sie sie immer noch.
    Sie war von den Klassikern zu modernen Romanen fortgeschritten, aber die Charaktere verwirrten sie. Ihre Motive waren nie klar. Sie liebten sich nicht, und sie hassten sich nicht, und ihre Geschichten endeten irgendwo mittendrin. Sie fürchtete, dass entweder der Autor absichtlich geheimnisvoll tat oder sie doch nicht so intelligent war, wie sie gedacht hatte. Und so gab sie die zeitgenössische Literatur wieder auf und kehrte zu den Klassikern zurück.
    Sie war permanent verliebt. Mit achtzehn Jahren war Romantik unerlässlich für das Glück. Die Ehe war erst ab zwanzig unerlässlich für das Glück. Deswegen löste sie so viele Verlobungen. Da war Danny, der Langstreckenläufer, Yaacov, der Spaßvogel, und Leon, der Intellektuelle. Außerdem war da jemand in der Zahlstelle ihres Büros namens Margaret: eine müde, weise aussehende Frau mit blassem Haar, die sie heimlich verehrte. Danny hatte ihr mit einem Gardinenring einen Antrag gemacht, und sie hatte ihn angenommen, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie ernst nahm.
    Und nun war er da: diese Bombe. Wer war er, der Fremde mit den Augen eines Dichters und den Händen eines Arbeiters, dessen eine wütende und prägnante Augenbraue ihr durch den Raum zu folgen schien? Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Es war ihr peinlich. Die Runde löste sich schließlich auf, aber sie ging nicht auf ihn zu.
    »Hazel, du kennst Amnon noch gar nicht. Er ist unser
neuer Hebräischlehrer, gerade erst aus Jerusalem gekommen.«
    Sie gaben einander die Hand. Er lächelte und sagte: »Sie haben eine kräftige Stimme.«
    »Ehrlich?«
    »Oh, ja. Ich habe Sie lauter als alle anderen gehört.«
    An diesem Abend gingen sie zusammen durch den Londoner Nebel: sie in ihrem Button-Down-Kragen, er im gebrauchten Mantel. Sie mit ihren Filmstargesten und er mit seinen Fahrradklammern. Später erinnerte sie sich, wie sie geredet und geredet hatten, aber ihre Erinnerung trog sie: Tatsächlich hatte er nicht geredet, sondern sie, sie plapperte ohne Unterlass, als sie durch die Straßen von Nordlondon zogen, und er zuckte die Achseln oder murmelte: Ja, ich habe auch … Und dann verstummte er mit einer Geste, weil er kaum ein Wort verstand. Als sie zum Haus zurückkehrten, war niemand mehr dort. Er wand seine Fahrradklammer in der Hand und fragte unter der Straßenlaterne, ob er sie wiedersehen dürfe.
    Sie trafen sich eine Woche später im Dominion-Kino auf der Tottenham Court Road. Sie fürchtete, ihn nicht mehr wiederzuerkennen, aber als sie ihn sah, nervös an der Mauer des Kinos kauernd, gab es kein Vertun. Sie erinnerte sich an die Augen und den Mantel. Und das Kauern. Er warf ihr immer wieder Blicke zu, hartnäckig,

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