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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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so ist. Ich weiß, dass es so ist.« Er wischt sich den Regen vom Kaftan, erfolglos. »Das ist der Unterschied zwischen uns.« Plötzlich kommt er mir so nah, dass mir der Atem stockt, mein Herz aussetzt. »Was ist, wenn ich dir sage, dass euer Kodex - dieser ›Shepher-Kodex‹, wie sie ihn nennen - für mich die reinste, perfekteste Schrift ist, die es gibt - der absolute Urtext - das Original?«
    »Das würde ich dir nicht glauben«, sage ich und füge zögernd hinzu: »Ich glaube nicht, dass eine solche Version je existiert hat.«
    In diesem Moment kommt ein Mann mit einer Zeitung über dem Kopf auf uns zu, sieht uns an und steckt den
Schlüssel ins Schloss. Wir weichen auseinander. Er stürzt in den schummrigen Flur und knallt die Tür zu.
    »Du musst dich entscheiden«, sagt Gideon, »die Zeit drängt.«
    »Was muss ich entscheiden?«
    »Auf welcher Seite du stehst.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Hör auf, Spielchen zu spielen. Entweder ich oder sie.«
    »Ich spiele keine Spielchen. Ich weiß nicht mal, wer du bist.«
    »Doch, weißt du. Das weißt du sehr gut.«
    »Dann sag es mir.«
    Er sieht mich an, antwortet aber nicht. Einen Moment lang schauen wir einander zitternd ins Gesicht. Regentropfen hängen an seinen Wimpern. In diesem Moment erkenne ich seine Augen. Es ist nur ein Aufblitzen wie bei einem vergessenen Namen.
    »Ich brauche deine Hilfe«, sagt er.
    »Um den Kodex zu stehlen?«
    »Um ihn zurückzustehlen. Dein Vorfahre hat ihn zuerst gestohlen.«
    »Du sagst, mein Urgroßvater war ein Dieb?«
    »Ich sage, er war Teil einer langen Familientradition.«
    Zehn volle Sekunden lang starren wir einander nieder. Mir klopft das Herz. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so etwas gefühlt habe. »Na gut«, räume ich schließlich ein und kann meine Stimme nur mit Mühe halten, »ich habe mal ein paar Bücher aus der Bibliothek mitgehen lassen. Das leugne ich ja gar nicht. Aber dies hier ist was anderes. Es ist riesig.«
    »Ich glaube, es liegt dir.«
    »Warum um alles in der Welt«, sage ich, »sollte ich dir glauben? Alles, was du mir gesagt hast, ist absurd.«

    »Nicht halb so absurd wie das, was du jetzt denkst.«
    Ich schlage meinen Kragen hoch. »Ich muss gehen.«
    Aber wir bleiben stehen. Der Wind pfeift in der Gegensprechanlage. In den Ecken des Eingangs wirbelt Staub auf. Etwas Fieberhaftes liegt in der Luft: ein hektischer, fremder Wind.
    »Wenn du ihnen den Kodex lässt«, sagt er, »ist er für immer verloren. Sie werden bis in alle Ewigkeit darüber streiten und zanken.«
    Ich fürchte, mich selbst zu verlieren an das Zwingende in Gideons Augen, so eindringlich sind sie und doch so sanft. Ich wende mich ab, um dieser heiklen Bitte zu entfliehen.
    »Du kennst die Wahrheit«, wiederholt er. »Du musst mir helfen.«
    Ich ziehe die Schultern hoch und renne hinaus in den Regen.

Drittes Kapitel
     
    Zum ersten Mal sah sie ihn bei einem Treffen der Zionist Youth Guard. Sie war achtzehn Jahre alt. Er war dreiundzwanzig. Sie vergaß sofort, dass sie verlobt war.
    Es war ihr erster Winter in London. Um das zu feiern, hatte sie sich rote Handschuhe gekauft, die zu dem Lippenstift passten, der (aber das sagte eine Freundin ihr erst später) ihr eigentlich gar nicht stand. Sie saß auf der anderen Seite der Runde und fing während des Singens immer wieder seinen Blick ein.
    Die Freundin, Marlene, würde ihr später sagen, sie solle einen dunkleren Ton tragen, ein dunkles Purpur. Sie hatte dunkles Haar, dunkle Augen, honigfarbene Haut. Sie trug eine geknöpfte Bluse mit Tupfen. Ihre Figur, die sie jahrelang
mit Schmalz und Kakao genährt hatte, war üppig und sinnlich.
    »Wer ist das?« Sie stieß das Mädchen neben sich an.
    »Wer ist wer?«
    »Der mit den Augen.«
    »Welcher soll das denn sein?«
    »Der mich anguckt.«
    Sie war in einem Reihenhaus im Norden geboren, aber seit sie denken konnte, war London ihr Gelobtes Land gewesen. Sobald sie ausgezogen war, wurde ihr Zuhause zu einer exotischen Erinnerung. Nie wieder hätte sie dorthin zurückkehren können.
    Viel später, als es das Haus, die Straße und die Nachbarschaft nicht mehr gab, konnte sie nur noch ein Mosaik von Bildern zusammensetzen: der Yorkshire-Herd, den sie einmal im Monat mit Graphit eingerieben hatte; die Spitzengardinen, die jede Woche gewaschen werden mussten; ein Paar Kerzenständer aus Messing, die ihre Mutter aus dem Schtetl mitgebracht hatte. Form und Farbe der Pflastersteine in der Straße; die Entdeckung von

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