Das Vermächtnis von Erdsee
Gerede vom Allkönig und der Roten Mutter waren bloße Worte. Und nicht einmal die richtigen Worte. Aber woher wusste Otter das?
In seinem ganzen Redeschwall war das einzige Wort, das Gelluk in der Ursprache gesagt hatte, der Sprache, aus der Zauber gewirkt sind, das Wort Turres gewesen.
Er hatte gesagt, es bedeute Samen. Sein eigenes Wissen um Magie bestätigte Otter, dass dies der wahre Name war. Gelluk hatte gesagt, er bedeute auch Quecksilber, aber Otter wusste, dass das falsch war.
Seine bescheidenen Lehrer hatten ihm alle ihnen bekannten Worte in der Sprache des Erschaffens beigebracht, die sie kannten. Darunter war weder der Name für Samen gewesen noch der Name für Quecksilber. Doch seine Lippen öffneten sich, seine Zunge bewegte sich. »Ayezur«, sagte er.
Er sprach mit der Stimme der Sklavin im steinernen Turm. Sie war es, die den wahren Namen für Quecksilber kannte und ihn durch ihn aussprach.
Dann hielt er für eine Weile still in Körper und Geist, und zum ersten Mal ging ihm auf, worin seine Macht lag.
Er stand in dem verschlossenen Raum im Dunkeln und wusste, er würde freikommen, weil er schon jetzt frei war. Stürmischer Jubel durchströmte ihn.
Nach einer Weile trat er freiwillig in die Falle aus Zauberbanden zurück, ging an seinen Platz, setzte sich auf die Pritsche und dachte weiter nach. Der Schließezauber war noch immer da, doch er hatte keine Macht über ihn. Er konnte hinein-und wieder heraustreten wie in bloße auf den Boden gezeichnete Linien. Dankbarkeit für seine Freiheit pochte so beständig in ihm wie sein Herz.
Er überlegte, was er tun musste und wie er es tun musste. Er war nicht sicher, ob er sie beschworen hatte oder ob sie aus eigenem Willen gekommen war; er wusste nicht, ob sie das Wort in der Ursprache zu ihm oder durch ihn gesagt hatte. Er wusste nicht, was er tat oder was sie tat, und er war fast sicher, dass jedes Wirken von Zauber Gelluks Zorn entfachen würde. Hastig und voller Angst, weil derartige Zauber bei seinen Lehrern als bloßer Schall und Rauch gegolten hatten, beschwor er aber schließlich doch die Frau aus dem steinernen Turm.
Er sah sie im Geist und sah sie, wie er sie dort, in jenem Raum gesehen hatte, und er rief nach ihr; und sie kam.
Ihre Erscheinung stand wieder dicht vor dem Netz aus Zauberbanden und starrte ihn an, und sie konnte ihn erkennen, denn ein diffuses blaues Licht erfüllte den Raum. Ihre wunden, rauen Lippen bebten, doch sie sprach nicht.
Er sprach und schenkte ihr seinen wahren Namen: »Ich bin Medra.«
»Ich bin Anieb«, flüsterte sie.
»Wie können wir freikommen?«
»Sein Name.«
»Selbst wenn ich ihn wüsste... Wenn ich bei ihm bin, kann ich nicht sprechen.«
»Wenn ich bei dir wäre, könnte ich es tun.«
»Ich kann dich nicht rufen.«
»Aber ich kann kommen«, sagte sie.
Sie schaute sich um und er sah nach oben. Beide wussten, dass Gelluk etwas bemerkt hatte, dass er hellhörig geworden war. Otter fühlte, wie die Bande straffer und enger wurden und der alte Schatten wieder auf ihn herabsank.
»Ich werde kommen, Medra«, sagte sie. Sie streckte ihre kleine Fland zur Faust geballt vor, dann öffnete sie sie mit der Handfläche nach oben, als ob sie ihm etwas anböte. Dann war sie fort.
Das Licht ging mit ihr. Er blieb allein im Dunkeln zurück. Der kalte Griff der Zauberbande packte ihn an der Kehle und schüttelte ihn, fesselte ihm die Hände und schnürte ihm die Lunge ein. Er krümmte sich zusammen, schnappte nach Luft. Er konnte nicht nachdenken, er konnte sich nicht erinnern. »Bleib bei mir«, sagte er und wusste nicht, zu wem er sprach. Er hatte Angst, aber er wusste nicht, wovor er Angst hatte. Der Zauberer, die Macht, der Zauberbann... Alles war Dunkelheit. Aber in seinem Körper - nicht in seinem Geist - brannte ein Wissen, das er nicht mehr benennen konnte, eine Gewissheit, die wie eine winzige Lampe war, die er in einem Gewirr unterirdischer Gänge in Händen hielt. Er hielt die Augen auf diesen Keim von Licht gerichtet.
Er war erschöpft, und böse Träume vom Ersticken suchten ihn heim, konnten ihm aber nichts anhaben. Er atmete tief. Schließlich schlief er ein. Er träumte von langen Bergrücken hinter Regenschleiern und von einem Licht, das durch den Regen leuchtete. Er träumte von Wolken, die über die Küsten der Insel zogen, und von einem großen grünen Hügel, der sich am Ende des Meers in Dunst und Sonnenlicht erhob.
Der Zauberer, der sich selbst Gelluk nannte, und der Pirat, der
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