Das Vermächtnis von Erdsee
Ich bin Turres und er ist ich...«
In seiner inneren Verwirrung nahm Otter nur undeutlich wahr, dass sie jetzt auf den Grubeneingang zusteuerten. Sie gingen untertage. Die Gänge des Bergwerks waren ein Labyrinth wie die Worte des Zauberers. Otter stolperte vorwärts, versuchte zu verstehen. Er sah die Sklavin im Turm vor sich, die Frau, die ihn angesehen hatte. Er sah ihre Augen.
Sie gingen ohne Licht, außer dem schwachen Werlicht, das Gelluk ihnen vorausschickte. Sie durchschritten seit langem unbenutzte Stollen, die der Zauberer bis in den letzten Winkel zu kennen schien, vielleicht aber kannte er den Weg auch nicht und ging nur achtlos dahin. Er redete und drehte sich manchmal zu Otter um, um ihn zu lenken oder zu warnen, dann ging er redend weiter.
Sie gelangten zu der Stelle, wo die Bergleute den alten Stollen ausbauten. Da sprach der Zauberer mit Licky, im flackernden Kerzenlicht und unter huschenden Schatten. Er berührte die Erde am Stollenende, nahm Klumpen davon in die Hand, zerrieb sie zwischen den Handflächen, knetete sie, probierte und kostete sie. Dabei war er still. Und Otter beobachtete ihn mit intensivem Blick, immer noch bemüht, alles zu verstehen.
Licky kehrte mit ihnen zurück zu den Hütten. Mit seiner sanften Stimme wünschte Gelluk Otter gute Nacht. Licky sperrte ihn wie gewöhnlich in den ziegelgemauerten Raum und gab ihm einen Laib Brot, eine Zwiebel und einen Krug Wasser.
Otter kauerte sich wie üblich unter dem unbehaglichen Druck der Zauberbande zusammen. Er trank gierig. Der scharfe, erdige Geschmack der Zwiebel war gut und er aß sie ganz auf.
Als das trübe Licht, das durch Risse im Mörtel des zugemauerten Fensters hereinsickerte, erloschen war, versank er nicht in dem blanken Elend all seiner Nächte in diesem Raum, sondern war wach und wurde immer wacher. Der innere Aufruhr, der ihn während der ganzen Zeit mit Gelluk begleitet hatte, ebbte nur langsam ab. Daraus erhob sich etwas, kam nahe und wurde klar, ein Bild, das er im Turm gesehen hatte, schattenhaft aber doch deutlich: die Sklavin im obersten Raum des Turms, diese Frau mit den leeren Brüsten und den verklebten Augen, die den Speichel ausspuckte, der ihr aus dem vergifteten Mund lief, und sich den Mund wischte und dastand und auf ihren Tod wartete. Sie hatte ihn angesehen.
Er sah sie sehr klar, klarer, als er sie im Turm gesehen hatte. Er sah sie klarer, als er je irgendjemanden gesehen hatte. Er sah ihre dünnen Arme, die geschwollenen Gelenke an Ellbogen und Puls, die kindliche Linie ihres Nackens. Es war, als wäre sie bei ihm in diesem Raum. Es war, als wäre sie in ihm, als wäre sie er. Sie sah ihn an. Er sah, wie sie ihn ansah. Er sah sich selbst durch ihre Augen.
Er sah die Zauberbande, die ihn hielten, schwere Taue von Dunkelheit, ein verworrenes Labyrinth aus Linien rund um ihn herum. Es gab einen Weg heraus aus dem Knäuel, wenn er sich so herumdrehte und dann so und die Linien mit den Händen auseinander schob, so; und er war frei.
Er konnte die Frau nicht mehr sehen. Er war allein im Raum und er stand frei da.
All die Gedanken, die er seit Tagen und Wochen schon nicht mehr hatte denken können, schossen ihm durch den Kopf, ein Ansturm von Gedanken und Gefühlen, ein Toben von Wut, Rachegelüsten, Erbarmen und Stolz.
Zunächst überkamen ihn die kühnsten Phantasien von Macht und Vergeltung: Er würde die Sklaven befreien, er würde Gelluk durch Zauberbande fesseln und ihn ins Feuer der Röstgrube werfen, er würde ihn binden und blenden und ihn in die oberste Kammer des Turms legen und die Quecksilberdämpfe einatmen lassen, bis er starb... Doch als er sich dann beruhigte und seine Gedanken besonnener wurden, wusste er, dass er einen Zauberer von solcher Kraft und Mächtigkeit nicht besiegen konnte, selbst wenn dieser Zauberer verrückt war. Wenn es eine Hoffnung gab, dann einzig die, seine Verrücktheit auszunutzen und den Zauberer so weit zu bringen, dass er sich selbst besiegte.
Er dachte nach. Die ganze Zeit, die er mit Gelluk zusammen gewesen war, hatte er versucht, etwas von ihm zu lernen, zu verstehen, was der Zauberer ihm erzählte. Doch er war sich jetzt sicher, dass Gelluks Gedanken, die Lehren, die er so bereitwillig erteilte, nichts mit seiner Macht zu tun hatten - mit überhaupt keiner wahren Macht. Abbau und Gewinnung von Erzen waren in der Tat großartige Künste, mit eigenen Geheimnissen und eigener Meisterschaft, aber Gelluk schien von diesen Künsten gar nichts zu verstehen. Sein
Weitere Kostenlose Bücher