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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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sich selbst König Losen nannte, hatten jahrelang zusammengearbeitet, einer hatte die Macht des anderen gestützt und vermehrt, jeder von ihnen in dem Glauben, der andere sei sein Diener.
    Gelluk war sicher, dass Losens zusammengeraubtes Königreich ohne ihn bald untergehen würde und feindliche Magier seinen König mit einem halben Zauberspruch ausplündern würden. Aber er ließ Losen den Meister spielen. Der Pirat kam dem Magier gelegen, hatte er sich doch daran gewöhnt, dass alle seine Wünsche erfüllt wurden, er reichlich freie Zeit hatte und ihm für seine persönlichen Bedürfnisse und seine Experimente unbegrenzt Sklaven zur Verfügung standen. Der günstige Zauber, durch den er Losens Person und seine Raubzüge und Expeditionen geschützt hatte, der Verriegelungszauber, den er über die Arbeitsstätten der Sklaven oder die Schatzkammern gelegt hatte, waren nicht schwer aufrechtzuerhalten. Sie zu wirken war etwas anderes gewesen, hatte lange, harte Arbeit bedeutet. Doch nun waren sie fest verankert, und es gab keinen Zauberer in Havnor, der sie hätte lösen können.
    Gelluk war noch niemandem begegnet, vor dem er Angst gehabt hätte. Ein paar Magier hatten seinen Weg gekreuzt, mächtig genug, dass er sich vor ihnen in Acht nahm, doch er hatte noch keinen getroffen, der es an Können und Macht mit ihm hätte aufnehmen können.
    In jüngster Zeit hatte Gelluk sich immer tiefer in die Geheimnisse bestimmter alter Lehrbücher versenkt, die einer von Losens Plünderern von der Insel Weg mitgebracht hatte, und war allem gegenüber, was er an Zauberkunst gelernt oder für sich entdeckt hatte, zusehends gleichgültig geworden. Das Buch hatte ihm gezeigt, dass das alles nur Schatten oder Andeutungen einer höheren Meisterschaft waren. Wie ein wahres Element alle Elemente beherrscht, so enthielt ein Wissen alles andere Wissen in sich. Während er sich dieser Meisterschaft immer mehr annäherte, begriff Gelluk, dass das Können von Zauberern genauso plump und falsch war wie Losens Titel und Herrschaft. Wenn er eins wurde mit dem wahren Element, würde er der eine wahre König sein. Als Einziger unter den Menschen würde er die Sprache des Erschaffens und Vemichtens sprechen. Als Hunde würde er Drachen halten.
    In dem jungen Wünschelrutengänger spürte er eine Macht, unausgebildet und unbeholfen, die er sich zunutze machen konnte. Er brauchte viel mehr Quecksilber, als er hatte, deshalb brauchte er einen Finder. Finden war eine grundlegende Fertigkeit. Gelluk hatte sie nie ausgeübt, doch konnte er sehen, dass der junge Kerl die Begabung dazu hatte. Er würde gut daran tun, den wahren Namen des Jungen in Erfahrung zu bringen, damit er sicher sein konnte, ihn unter Kontrolle zu haben. Er seufzte bei dem Gedanken an die Zeit, die er darauf verschwenden musste, den Jungen darin zu unterrichten, wofür er taugte. Und danach musste das
    Metall erst noch aus der Erde geholt und bearbeitet werden. Wie immer setzte sich Gelluk im Geist über die Hindernisse und Umwege hinweg und steuerte geradewegs auf das wundervolle Geheimnis an deren Ende zu.
    In dem Lehrbuch von Weg, das er auf allen Reisen in einer durch Zauberbann versiegelten Schatulle mit sich führte, gab es Stellen über das wahre Läuterungsfeuer. Gelluk hatte diese Stellen lange studiert und wusste, dass, wenn er erst eine ausreichende Menge des reinen Metalls beisammen hatte, es weiter geläutert werden musste, bis es zum Leib des Mondes wurde. Er hatte die verschlüsselte Ausdrucksweise des Buches so verstanden, dass das Feuer, das reines Quecksilber hervorbringen soll, nicht bloß mit Holz, sondern mit menschlichen Leibern gespeist werden muss. Bei mehrmaligem Lesen in dieser Nacht in seinem Zimmer in den Hütten wog er noch einmal jedes Wort ab, und es schien ihm, als lasse sich noch eine andere mögliche Bedeutung darin erkennen. In diesen Büchern der Tradition gab es immer noch eine weitere, eine andere Bedeutung. Vielleicht sagte das Buch, dass nicht nur niedriges Fleisch, sondern auch unterlegener Geist zum Opfer gebracht werden sollte. Das große Feuer im Turm sollte also nicht nur mit toten Körpern gespeist werden, sondern mit lebenden. Lebendig und bei Bewusstsein. Reinheit aus dem Verkommenen; reines Glück aus Qual. Das war alles Teil des einen, großen Prinzips, das, einmal erkannt, vollkommen klar war. Er war sicher, dass er Recht hatte, dass er endlich das richtige Verfahren erkannt hatte. Doch er durfte nichts überstürzen, musste geduldig

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