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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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abwarten, musste Gewissheit erlangen. Er ging zu einer anderen Stelle über und verglich die beiden, brütete über dem Buch bis tief in die Nacht. Einmal lenkte etwas seine Aufmerksamkeit ab, eine Störung in den äußeren Bezirken seiner Wachsamkeit; der Junge probierte irgendeinen Trick aus oder sonst etwas. Ungehalten sagte Gelluk ein einziges Wort und kehrte zu den Wundem in Allkönigs Reich zurück. Er bemerkte nicht, dass ihm die Träume seines Gefangenen entschlüpft waren.
    Am nächsten Tag befahl er Licky, den Jungen zu ihm zu bringen. Er freute sich darauf, ihn zu sehen, ihn zu belehren, ihn ein wenig zu tätscheln, wie er das gestern schon getan hatte. Er setzte sich mit ihm in die Sonne. Gelluk liebte Kinder und Tiere. Er liebte alle schönen Dinge. Es war ein Vergnügen, ein junges Geschöpf um sich zu haben. Otters verständnisloser Respekt war liebenswert wie seine unbegriffene Stärke. Sklaven waren ermüdend mit ihrer Schwäche, ihrer Hinterlist und ihren hässlichen, kranken Körpern. Natürlich war Otter sein Sklave. Aber er brauchte es nicht zu wissen. Sie konnten Lehrer und Lehrling sein. Aber Lehrlinge sind unberechenbar, dachte Gelluk, und ihm fiel sein Lehrling Früh ein, der irgendwie zu gerissen war; er musste daran denken, ihn strenger zu überwachen. Vater und Sohn, das sollten er und Otter sein. Der Junge sollte ihn Vater nennen. Er erinnerte sich daran, dass er seinen wahren Namen herausfinden wollte. Es gab mehrere Wege, dies zu bewerkstelligen, aber am einfachsten wäre es, da der Junge ohnehin schon unter seiner Obhut stand, ihn zu fragen. »Wie ist dein Name?«, fragte er und sah Otter eindringlich an.
    Es gab einen kleinen inneren Kampf, doch der Mund öffnete sich und die Zunge bewegte sich. »Medra.«
    »Sehr gut, sehr gut, Medra«, sagte der Zauberer. »Du kannst mich Vater nennen.«
     
    »Du musst die Rote Mutter finden«, sagte er. Sie saßen wieder nebeneinander draußen vor den Hütten. Die Herbstsonne war warm. Der Zauberer hatte den kegelförmigen Hut abgenommen und das dichte graue Haar wehte ihm lose ums Gesicht. »Ich weiß, du hast einen kleinen Batzen ausfindig gemacht, damit sie etwas zum Graben haben, aber da ist nicht mehr drin als ein paar Tropfen. Es lohnt sich kaum, für so wenig die Feuer zu entfachen. Wenn du mir helfen willst und wenn ich dich unterrichten soll, musst du dir schon etwas mehr Mühe geben. Ich denke, du weißt wie.« Er lächelte Otter an. »Stimmt's?«
    Otter nickte.
    Er war noch immer erschüttert, entsetzt von der Leichtigkeit, mit der Gelluk ihn dazu gebracht hatte, seinen Namen zu verraten, was dem Zauberer endgültig unmittelbare Macht über ihn gab. Jetzt hatte er keine Hoffnung mehr, Gelluk in irgendeiner Weise Widerstand zu leisten. In dieser Nacht war er zutiefst verzweifelt gewesen. Doch dann war ihm Anieb in den Sinn gekommen: Sie war aus eigenem Willen gekommen, mit ihren eigenen Mitteln. Er konnte sie nicht beschwören, konnte nicht einmal an sie denken und hätte auch nicht gewagt, das zu tun, während er mit Gelluk zusammen war. Aber sie kam und war gegenwärtig in seinem Geist.
    Es war nicht leicht, sie gegenwärtig zu halten, dem Gerede des Zauberers und den ständigen, halbbewussten Kontrollzaubem zum Trotz, die ihn mit Dunkelheit umgaben. Doch wenn es Otter gelang, dann war nicht so sehr sie bei ihm, sondern sie war er oder er war sie. Es sah mit ihren Augen. Ihre Stimme sprach in seinem Geist, lauter und deutlicher als Gelluks Stimme und sein Zauber. Durch ihre Augen und ihren Geist konnte er sehen und denken. Und er erkannte immer deutlicher: Der Zauberer war sich derart sicher, ihn mit Leib und Seele zu beherrschen, dass er nicht auf die Zauber achtete, die Otter an seinen Willen fesselten. Eine Fessel ist eine Verbindung. Er - oder Anieb mit ihm - konnte die Fäden von Gelluks Zaubern bis in seinen Geist hinein zurückverfolgen.
    Gelluk war all dies nicht bewusst, und er redete weiter, gab sich dem unerschöpflichen Zauber seiner eigenen betörenden Stimme hin.
    »Du musst den wahren Schoß finden. Den Bauch der Erde, der den reinen Mondsamen gefangen hält. Hast du gewusst, dass der Mond der Vater der Erde ist? Ja, ja! Und er lag bei ihr, wie es das Recht des Vaters ist. Er entfachte ihren lehmigen Grund mit seinem wahren Samen. Aber sie wird den König nicht zur Welt bringen. Sie ist mächtig in ihrer Angst und verstockt in ihrer Abscheulichkeit. Sie hält ihn zurück und verbirgt ihn in der Tiefe ihres Schoßes, aus

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