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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Angst, den zur Welt zu bringen, der ihr Herr werden könnte. Um ihn zur Welt zu bringen, muss daher sie bei lebendigem Leib verbrannt werden.«
    Gelluk hielt inne und schwieg für eine Weile, dachte nach, das Gesicht erregt. Otter warf einen Blick auf die Bilder in seinem Geist: Große lodernde Feuer, brennende Stöcke mit Händen und Füßen, brennende Fleischklumpen, die schrien, wie grünes Holz im Feuer.
    »Ja«, sagte er, die tiefe Stimme weich und verträumt, »sie muss bei lebendigem Leib verbrannt werden. Dann, nur dann wird er daraus hervorgehen, strahlend! Oh, es ist Zeit, höchste Zeit. Wir müssen den König entbinden. Wir müssen die große Ader finden. Sie ist hier, daran kann gar kein Zweifel bestehen. >Der Mutter Schoß liegt unter Samory.<«
    Wieder hielt er inne. Mit einem Mal sah er Otter ins Gesicht, der bei dem Gedanken erschauerte, der Zauberer könnte ihn beim Betrachten seines Geistes ertappt haben. Gelluk starrte ihn ein Weilchen an, mit diesem halb eindringlichen, halb nichtsehenden Blick, lächelnd. »Kleiner Medra!«, sagte er, als würde er eben erst bemerken, dass er da war, und klopfte Otter auf die Schulter. »Ich weiß, dass du die Gabe hast, zu finden, was verborgen ist. Eine ziemlich große Gabe, wäre sie ausgebildet, wie es sich gehört. Hab keine Angst, mein Sohn. Ich weiß, warum du meine Diener nur zu dem kleinen Vorkommen geführt hast, Spiel, Aufschub und Zeitgewinn. Doch nun, da ich gekommen bin, wirst du mir dienen und hast nichts zu befürchten. Und es hat keinen Zweck, mir irgendetwas zu verbergen, nicht wahr? Ein kluges Kind liebt seinen Vater und folgt ihm, und der Vater belohnt das Kind, wie es das verdient.« Er lehnte sich dicht an ihn, wie er das gerne tat, und sagte freundlich, vertraulich: »Ich bin sicher, du kannst die große Ader finden.«
    »Ich weiß, wo sie ist«, sagte Anieb.
    Otter konnte nicht sprechen, aber sie sprach durch ihn. Seine Stimme klang breiig und schwach.
    Sehr wenige Leute nur sprachen zu Gelluk, es sei denn, er zwang sie dazu. Er war so sehr daran gewöhnt, alle, die sich ihm näherten, durch Zauberbann in Schach zu halten, zu schwächen und zum Verstummen zu bringen, dass er gar nicht mehr daran dachte. Er war es gewöhnt, dass man ihm zuhörte, und er hatte das Zuhören verlernt. Gelassen in seiner Kraft und besessen von seinen Ideen, hegte er keinen Gedanken, der darüber hinausging. Er bemerkte Otter überhaupt nicht, außer als Teil seiner Pläne, als Erweiterung seiner selbst. »Ja, ja, das wirst du tun«, sagte er und lächelte wieder.
    Otter aber spürte Gelluk in aller Intensität, körperlich und zugleich als Gegenwart einer immensen, kontrollierenden Macht; und es schien ihm, als ob Aniebs Worte Gelluks Macht über ihn stark gemindert, ihm Platz zum Stehen, Boden unter den Füßen geschaffen hätten. Und obwohl Gelluk ihm jetzt so nahe war, beängstigend nahe, konnte er sprechen.
    »Ich werde Euch hinführen«, sagte er steif und mühsam.
    Gelluk war es gewöhnt, Worte zu hören, die er den Menschen in den Mund legte - sofern sie überhaupt etwas sagten. Dies waren Worte, die er wohl hören wollte, aber nicht erwartet hatte. Er packte den Arm des jungen Mannes und zog dessen Gesicht ganz dicht an seines heran, und er fühlte, wie jener sich wegduckte.
    »Wie schlau du bist«, sagte er. »Hast du besseres Erz gefunden als den Batzen, den du zuerst gefunden hast? Wert, abgebaut und geröstet zu werden?«
    »Es ist die Ader«, sagte der junge Mann.
    Die langsam und steif vorgebrachten Worte hatten großes Gewicht.
    »Die große Ader?« Gelluk sah ihn unverwandt an, die Gesichter keine Handbreit voneinander entfernt. Das Licht in seinen bläulichen Augen war wie ein sanftes, irres Fließen von Quecksilber. »Der Schoß?«
    »Nur der Meister kann dorthin gehen.«
    »Welcher Meister?«
    »Der Meister des Hauses. Der König.«
    Wieder war diese Unterhaltung für Otter wie ein Vorantasten mit einer kleinen Lampe durch große Dunkelheit. Die Lampe war Aniebs Verständnis. Jeder Schritt zeigte den nächsten Schritt, den er tun musste. Doch nie konnte er sehen, wo er war. Er wusste nicht, was als Nächstes kam, und er begriff nicht, was er sah. Aber er sah es und ging voran, Wort für Wort.
    »Woher weißt du von diesem Haus?«
    »Ich habe es gesehen.«
    »Wo? Hier in der Nähe?«
    Otter nickte.
    »Ist es in der Erde?«
    Erzähl ihm, was er sieht, flüsterte Anieb in Otters Innerem und er sagte: »Ein Fluss läuft durch die Dunkelheit über

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