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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Macht. Weißt du, wie wir es im geheimen Innern seines Palasts nennen?«
    Der große Mann mit dem hohen Hut setzte sich plötzlich neben Otter auf den Boden, dicht neben ihn. Sein Atem roch nach Erde. Aus hellen Augen schaute er Otter unverwandt an. »Wüsstest du das gern? Du kannst alles erfahren, was du erfahren willst. Ich brauche keine Geheimnisse vor dir zu haben. Genauso wenig wie du vor mir.« Und er lachte, nicht bedrohlich, sondern vergnügt. Wieder sah er Otter an, das große, weiße Gesicht glatt und nachdenklich. »Macht hast du, o ja, jede Menge kleine Anlagen und Begabungen. Ein schlaues Kerlchen. Aber nicht zu schlau; das ist gut. Nicht zu schlau, um etwas zu lernen, wie ein... Ich unterrichte dich, wenn du willst. Lernst du gern? Liebst du das Wissen? Würdest du gern die Namen kennen, mit denen wir den König bezeichnen, wenn er ganz allein ist im Glanz seines steinernen Hofes? Sein Name ist Tur-res. Kanntest du diesen Namen? Das ist ein Wort in der Sprache des Allkönigs. Sein eigener Name in seiner eigenen Sprache. In unserer Elementarsprache würden wir Samen sagen.« Er lächelte wieder und tätschelte Otters Hand. »Denn es ist der Keim und der Befruchter. Keim und Quelle von Macht und Recht. Du wirst sehen. Du wirst schon sehen. Komm mit! Komm mit! Lass uns den König anschauen, wie er unter seinen Untertanen umherfliegt und zur Sammlung kommt durch sie!« Mit einer plötzlichen Bewegung stand er auf, nahm Otters Hand in die seine und zog ihn mit erstaunlicher Kraft hoch. Er lachte vor Erregung.
    Otter fühlte sich wie nach endlosem, trübem Dahindämmern im Zustand der Halbbewusstheit zurückgekehrt ins lebendige Leben. Bei der Berührung des Zauberers verspürte er nicht das Grauen der Zauberbande, sondern eine Zufuhr von Energie und Hoffnung. Er sagte sich, er sollte diesem Mann besser nicht vertrauen, doch es verlangte ihn danach, ihm zu vertrauen, von ihm zu lernen. Gelluk war mächtig, meisterhaft, seltsam, aber er hatte ihn freigelassen. Zum ersten Mal seit Wochen ging Otter mit ungebundenen Händen umher und frei von Zauberbanden.
    »Hier entlang, hier entlang«, murmelte Gelluk. »Es wird dir kein Leid geschehen.« Sie waren zum Eingang des Röstturms gekommen, einem schmalen Durchlass in den drei Fuß dicken Mauern. Er nahm Otter beim Arm, weil der junge Mann zögerte.
    Licky hatte ihm erzählt, dass die Menschen, die im Turm arbeiteten, von den Dämpfen, die beim Erhitzen des Metalls aufstiegen, krank wurden und schließlich starben. Otter hatte den Turm nie betreten und Licky auch nie hineingehen sehen. Er war jedoch nahe genug hingekommen, um zu wissen, dass er von Schließezaube rn umgeben war, die jeden Sklaven, der fliehen wollte, stechen, verwirren und ausweglos verstricken würden. Er fühlte diese Zauber jetzt wie die Fäden eines Spinnennetzes, Taue aus dunklem Nebel, die sich vor dem Magier auftaten, der sie gewebt hatte.
    »Atme, atme, atme tief durch«, sagte Gelluk lachend, und Otter versuchte, den Atem nicht anzuhalten, als sie den Turm betraten.
    Die Röstgrube nahm die Mitte eines gewölbten großen Raumes ein. Spindeldürre Gestalten eilten hin und her, schwarze Striche vor der Glut, und schaufelten immer wieder Erzgestein auf Holzhaufen, die durch enorme Blasebalge in fauchender Glut gehalten wurden, während andere frische Scheite herbeibrachten und die Blasebälge bedienten. Vom obersten Punkt des Gewölbes aus zog sich eine Reihe von Kammern in Rauch und Dunst spiralförmig in den Turm hinauf. In diesen Kammern, hatte Licky ihm erklärt, wurde der Niederschlag des Quecksilbers aufgefangen und kondensiert, wieder erhitzt und nochmals kondensiert, bis in der obersten Kammer das reine Metall in einen Steintrog oder eine Schüssel floss - ein Tropfen pro Tag nur, sagte er, bei dem wenig erzhaltigen Gestein, das sie gerade rösteten.
    »Hab keine Angst«, sagte Gelluk und seine kräftige und melodische Stimme übertönte das Ächzen und Keuchen der riesigen Blasebälge und das beständige Fauchen des Feuers. »Komm, komm und schau, wie er durch die Luft fliegt, selbst immer reiner wird und seine Untertanen läutert!« Er zog Otter an den Rand der Röstgrube. Seine Augen glänzten im flackernden Schein der Flammen. »Böse Geister, die für den König arbeiten, werden rein«, erklärte er, seine Lippen dicht an Otters Ohr. »Schlacke und Verdorbenes werden ausgeschwitzt und fließen heraus. Krankheit und Unreinheiten bilden Schwären und treten durch ihre Wunden aus.

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