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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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die blaue
    Iris des Frühlings. Ihre Mutter und ihre Tante nannten sie Iris, wenn sie von ihr sprachen.
    »Was immer ich bin, was immer ich tun kann, es ist nicht genug«, sagte er.
    »Es ist nie genug«, erwiderte Met. »Und was kann einer allein schon tun?«
    Sie streckte den Daumen hoch; dann streckte sie die anderen Finger aus und schloss sie zur Faust zusammen; dann drehte sie die Hand langsam um und öffnete sie, die Handfläche nach oben, als ob sie etwas anböte. Er hatte diese Geste bei Anieb gesehen. Das ist kein Zauber, dachte er, genau beobachtend, sondern ein Zeichen. Ayo beobachtete ihn.
    »Das ist ein Geheimnis«, sagte sie.
    »Darf ich das Geheimnis wissen?«, fragte er nach einer Weile.
    »Du kennst es schon. Du hast es Iris gegeben. Sie hat es dir gegeben: Vertrauen.«
    »Vertrauen«, sagte der junge Mann. »Ja. Aber gegen ... gegen sie?... Gelluk ist fort. Vielleicht fällt Losen jetzt. Aber macht das irgendeinen Unterschied? Werden die Sklaven freikommen? Werden die Bettler zu essen haben? Wird Gerechtigkeit geschaffen? Ich glaube, es steckt etwas Böses in uns, in der Menschheit insgesamt. Vertrauen leugnet das. Setzt sich darüber hinweg. Setzt sich hinweg über den Abgrund. Aber es ist da. Und alles, was wir tun, dient letztlich dem Bösen, denn das ist es, was wir sind: Habgier und Grausamkeit. Ich betrachte die Welt, die Wälder und den Berg hier, den Himmel, und alles ist in Ordnung, wie es sein soll. Aber wir sind nicht in Ordnung. Die Menschen sind es nicht. Wir haben Unrecht. Wir tun Unrecht. Kein Tier tut Unrecht. Wie sollte es auch Unrecht tun? Aber wir können es und wir tun es. Und hören nie auf damit.«
    Sie lauschten ihm, weder mit Zustimmung noch mit Widerspruch, sie nahmen seine Verzweiflung hin. Seine Worte fielen in ihr lauschendes Schweigen, blieben dort für Tage und wurden ihm verwandelt wiedergegeben.
    »Wir können nichts ohne einander«, sagte er. »Aber die Habgierigen, die Grausamen sind es, die Zusammenhalten und sich gegenseitig stärken. Und diejenigen, die sich ihnen nicht anschließen, bleiben jeder für sich allein.« Das Bild von Anieb, wie er sie das erste Mal gesehen hatte, eine sterbenskranke Frau allein in dem Raum des Turms, stand ihm immer vor Augen. »Wirkliche Macht wird verschleudert. Jeder Zauberer setzt sein Können gegen alle anderen ein und dient der Habgier der Menschen. Was kann die Macht, auf diese Art eingesetzt, Gutes wirken? Sie ist vertan. Sie verkommt und ist vergeudet. Wie das Leben der Sklaven. Niemand kann frei sein für sich allein. Nicht einmal ein Magier. Alle miteinander üben sie ihre Magie in Gefängniszellen, um nichts dabei zu gewinnen. Nichts ändert sich. Es gibt keinen Weg, Macht für das Gute einzusetzen.«
    Ayo schloss die Hand und öffnete sie mit der Handfläche nach oben, die flüchtige Andeutung einer Gebärde, eines Zeichens.
    Ein Mann kam hinauf ins Gebirge nach Waldkant, ein Köhler aus Firn. »Meine Frau Nesty schickt mich mit einer Nachricht für die weise Frau«, sagte er und die Dorfbewohner zeigten ihm Ayos Haus. An der Tür machte er eine rasche Bewegung, eine Faust, zur Handfläche geöffnet. »Nesty lässt euch sagen, dass die Krähen früh fliegen und dass der Hund hinter dem Otter her ist«, sagte er.
    Otter, der beim Herdfeuer saß und Walnüsse knackte, hielt still. Met dankte dem Boten und brachte ihm eine Tasse Wasser und eine Hand voll Walnusskerne. Sie und Ayo plauderten mit ihm über seine Frau. Als er fort war, wandte sie sich Otter zu.
    »Der Hund steht in Losens Dienst«, sagte er. »Ich gehe noch heute.«
    Met sah ihre Schwester an. »Dann wird es Zeit, dass wir ein wenig mit dir reden«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Herds. Ayo stand am Tisch, schweigend. Ein schönes Feuer brannte im Herd. Es herrschte feuchtkaltes Wetter und Feuerholz hatten sie reichlich hier in den Bergen.
    »Es gibt viele Leute in dieser Gegend und vielleicht auch anderswo, die meinen - wie du gesagt hast -, dass man allein nicht weise sein kann. Daher versuchen diese Leute zusammenzuhalten. Deshalb nennt man uns >die Hand< oder >die Frauen von der Hand<, obwohl wir nicht nur Frauen sind. Doch es ist nützlich, uns >Frauen< zu nennen, denn die großen Herrschaften achten nicht auf Frauen, die Zusammenarbeiten. Sie erwarten nicht, dass Frauen sich Gedanken machen über Dinge wie gute oder schlechte Regierungen. Oder dass sie in irgendeiner Form Macht haben.«
    »Es heißt«, sagte Ayo aus dem

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