Das Vermächtnis von Erdsee
die Falle im Dunkeln. Wer von ihnen hatte das gesagt?
Gelluk stand angespannt und zitternd da, er wusste immer noch nicht weiter. »Turres«, sagte er nach einer Weile, fast flüsternd.
Der Wind wehte durch das trockene Gras.
Plötzlich stürzte der Zauberer mit glühenden Augen nach vom und schrie: »Öffne dich, im Namen des Königs! Ich bin Tinaral!« Und seine Hände vollführten eine rasche, machtvolle Bewegung, als ob er einen Vorhang auseinander schöbe.
Der Hügelrücken vor ihnen bebte, die Erdmassen wälzten sich beiseite und öffneten sich. Eine Spalte tat sich auf und weitete sich. Wasser sprudelte heraus und lief dem Zauberer über die Füße.
Mit starrem Blick wich er zurück und machte eine grimmige Handbewegung, die das Rinnsal zu einem Sprühregen zerstieben ließ, wie wenn der Wind in einen Springbrunnen fährt. Die Kluft in der Erde wurde tiefer und zeigte die Glimmerschicht. Mit einem scharfen, klirrenden Krachen splitterte der glitzernde Stein ab. Darunter Dunkelheit.
Der Magier schritt voran. »Ich komme«, sagte er freudig erregt mit seiner sanften Stimme und trat furchtlos in die offene Wunde in der Erde; weißes Licht umspielte seine Hände und seinen Kopf. Doch als er an das aufgebrochene Dach der Höhle kam und keine Schräge und keine Stufen entdecken konnte, die hinunter führten, zögerte er, und in diesem Moment rief Anieb mit Otters Stimme: »Tinaral, fall hinab!«
Wild taumelnd versuchte der Zauberer kehrt zu machen, verlor auf der bröckelnden Erde den Halt und stürzte hinab in die Finsternis. Sein scharlachrotes Gewand bauschte sich im Wind, sein Werlicht geisterte wie eine Sternschnuppe um ihn.
»Schließ dich!«, schrie Otter und fiel auf die Knie, die Hände auf dem Boden, auf den wunden Lippen der Spalte. »Schließ dich, Mutter! Sei heil, sei ganz!« Er flehte, bat, sagte in der Sprache des Erschaffens, die er nicht gekannt hatte, bis sie ihm jetzt über die Lippen kamen. »Mutter, sei ganz!«, sagte er, und der auf gebrochene Grund ächzte und bewegte sich, zog sich zusammen, heilte sich selbst.
Eine rötliche Spur blieb zurück, eine Narbe, die durch Erdreich und Kies und entwurzeltes Gras verlief.
Der Wind riss die vertrockneten Blätter von dem Eichengestrüpp. Die Sonne stand hinter dem Hügel und eine graue Masse tief hängender Wolken rückte näher.
Otter kauerte dort am Fuß des Hügels, allein.
Die Wolken wurden noch dunkler. Regen fegte durch das kleine Tal, fiel auf Erdreich und Gras. Über den Wolken stieg die Sonne die westlichen Stufen des strahlenden Himmelsgewölbes hinunter.
Schließlich setzte Otter sich auf. Er war nass, er fror und war verwirrt. Warum war er hier?
Er hatte etwas verloren und musste es wiederfinden. Er wusste nicht, was er verloren hatte, doch es befand sich in dem glühenden Turm, an dem Ort, wo zwischen
Rauch und Dämpfen Stufen in die Höhe stiegen. Dorthin musste er gehen. Er stand auf und schlurfte lahm und stockend das Tal hinunter.
Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu schützen oder zu verbergen. Zu seinem Glück gab es keine Wachposten; es gab nur vereinzelte Wachen, und sie waren nicht in Alarmbereitschaft, seitdem die Gefängnisse durch die Zauberkraft des Magiers verriegelt waren. Der Zauber war gebrochen, doch die Leute im Turm wussten es nicht, sie arbeiteten weiter unter dem noch größeren Bann der Hoffnungslosigkeit.
Otter schritt an dem Gewölbe mit der Röstgrube und den hin und her eilenden Sklaven vorbei und stieg langsam die gewundene, immer dunkler werdende, stinkende Treppe hinauf, bis er den obersten Raum erreichte.
Da war sie, die kranke Frau, die ihn heilen konnte, die arme Frau, die den Schatz besaß, die Fremde, die er selbst war.
Er stand still am Eingang. Sie setzte sich auf den Steinboden beim Röstofen; ihr magerer Körper wirkte grau und dunkel wie die Steine. Kinn und Brüste glänzten von dem Speichel, der ihr aus dem Mund troff. Er dachte an das Rinnsal, das aus der aufgebrochenen Erde gelaufen war.
»Medra«, sagte sie. Sie konnte nicht deutlich sprechen mit ihrem wunden Mund. Er kniete nieder und nahm ihre Hände, sah ihr ins Gesicht.
»Anieb«, flüsterte er, »komm mit mir.«
»Ich möchte nach Hause«, sagte sie.
Er half ihr aufzustehen. Er hatte keinen Zauber gewirkt, um sie zu verbergen oder zu schützen. Seine Kraft war erschöpft. Und obwohl sie ein großes magisches Potenzial in sich trug, womit sie, an seiner Seite einhergehend, seine Schritte gelenkt hatte, auf
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