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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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nur einen Satz: »Sie hat mich gerettet.« Und der Fuhrmann stellte weiter keine Fragen.
    »Sie hat mich gerettet, aber ich konnte sie nicht retten«, sagte er finster zu den Männern und Frauen im Gebirgsdorf. Er wollte sie nicht loslassen, presste den steifen, regennassen Körper an sich, wie um ihn zu verteidigen.
    Behutsam brachten sie ihm bei, dass eine der Frauen Aniebs Mutter war und dass er Anieb ihr überlassen solle. Er tat es schließlich, wollte aber sehen, ob sie gut mit seiner Freundin umging und sie schützen würde. Dann folgte er einer anderen sehr langmütigen Frau. Er zog trockene Kleider an, die sie ihm zum Anziehen gab, und er aß ein wenig von dem, was sie ihm zu essen gab. Und seufzend vor Kummer legte er sich auf die Pritsche, zu der sie ihn führte, und schlief ein.
     
    Er war durch eine schwere Prüfung gegangen und hatte eine große Macht herausgefordert. Seine Körperkräfte
    kehrten bald zurück, weil er jung war, sein Geist aber brauchte Zeit, um wieder zu sich zu finden. Er hatte etwas verloren, für immer verloren, verloren in dem Moment, als er es fand.
    Er suchte in der Erinnerung, unter Schatten und unter Bildern: der Überfall auf sein Zuhause in Havnor; die steinerne Zelle und Hund; die Ziegelsteinzelle in den Hütten und die Zauberbande dort; Gehen mit Licky; Sitzen mit Gelluk; die Sklaven, das Feuer, die Steintreppe, die sich durch Rauch und Dampf hinaufwindet zu dem höchsten Raum im Turm. Er musste es alles wiedergewinnen, noch einmal hindurchgehen, auf der Suche. Immer wieder stand er in diesem Raum im Turm und sah die Frau an und sie sah ihn an. Immer wieder schritt er durch das kleine Tal, durch das trockene Gras, durch die Visionen des Zauberers, gemeinsam mit ihr. Immer wieder sah er den Zauberer fallen, sah die Erde sich schließen. Er sah den roten Höhenzug des Berges in der Dämmerung. Anieb starb, während er sie hielt, ihr erschöpftes Gesicht in seinem Arm. Er fragte sie, wer sie war und was sie getan hatten und wie sie es getan hatten, doch sie konnte ihm nicht antworten.
    Ihre Mutter Ayo und deren Schwester Met waren weise Frauen. Sie heilten Otter so gut sie konnten mit warmem Öl und Massagen, Kräutern und Gesängen. Sie sprachen mit ihm und hörten ihm zu, wenn er sprach. Keine von beiden hatte auch nur den geringsten Zweifel, dass er mit großer Macht begabt war. Er leugnete es. »Ohne Eure Tochter hätte ich nichts zu tun vermocht«, sagte er.
    »Was hat sie getan?«, fragte Ayo sanft.
    Er erzählte es ihr, so gut er konnte. »Wir waren Fremde. Und doch nannte sie mir ihren Namen. Und ich nannte ihr meinen.« Er sprach zögernd, mit langen Pausen. »Ich war es, der mit dem Zauberer ging, der mich dazu zwang, aber sie war bei mir; und sie war frei. Und so, gemeinsam, konnten wir seine Macht gegen ihn wenden, sodass er sich selbst vernichtete.« Er dachte lange nach, dann sagte er: »Sie hat mir ihre Kraft gegeben.«
    »Wir wussten, dass sie eine große Begabung hatte«, sagte Ayo und verstummte dann für eine Weile. »Aber wir wussten nicht, wie wir sie unterrichten sollten. Es gibt keine Lehrer mehr hier auf dem Berg. König Losens Magier vertreiben alle Zauberer und Hexen. Es gibt niemanden, an den man sich wenden kann.«
    »Einmal war ich auf dem großen Berghang«, sagte Met. »Ich geriet in einen Schneesturm und kam vom Weg ab. Sie kam zu mir, nicht körperlich, und führte mich zurück auf den Weg. Damals war sie gerade erst zwölf.«
    »Manchmal begleitete sie die Toten«, sagte Ayo sehr leise. »Im Wald, nach Faliern hinunter. Sie kannte die Urmächte, von denen meine Großmutter mir erzählte, die Erdmächte. Sie seien stark dort, sagte sie.«
    »Aber sie war auch nur ein Mädchen wie alle anderen.« Met bedeckte ihr Gesicht. »Ein liebes Mädchen«, flüsterte sie.
    Nach einer Weile sagte Ayo: »Sie ging nach Firn hinunter mit ein paar von den jungen Leuten. Um bei den Schäfern dort Felle zu kaufen. Letztes Frühjahr vor einem Jahr. Der Zauberer, von dem sie erzählten, kam dorthin und behexte die Leute. Holte Sklaven.« Dann waren sie still.
    Ayo und Met sahen sich sehr ähnlich, und Otter sah in ihnen, wie Anieb hätte sein können: eine kleine, zierliche, flinke Frau mit rundem Gesicht und hellen Augen und einer Masse dunklen Haars, nicht glatt wie die meisten Leute, sondern kraus gelockt. Viele Leute im Westen von Havnor hatten solches Haar.
    Aber Anieb war kahl gewesen, wie alle Sklaven im Röstturm.
    Ihr gewöhnlicher Name war Iris gewesen,

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