Das Vermächtnis von Erdsee
dieser seltsamen Reise in das Tal und den Zauberer dazu gebracht hatte, seinen Namen preiszugeben, wusste sie nichts von magischen Künsten oder Zauberei und hatte überhaupt keine Kraft mehr übrig.
Doch niemand beachtete sie, als ob ein Verhüllungszauber über ihnen läge. Sie gingen an den Hütten vorbei, weg vom Bergwerk. Sie gingen durch lichten Wald auf die Hügel zu, die sich vom Tiefland von Samory aus gesehen vor den Berg Onn schoben.
Anieb hielt besser Schritt, als man hätte vermuten sollen, angesichts ihres verhungerten und ausgemergelten Zustands und obendrein fast nackt in Regen und Kälte. Ihr Wille war ganz auf das Vorwärtsgehen gerichtet; sie hatte nichts anderes im Sinn, nicht ihn, gar nichts. Doch sie war körperlich bei ihm, und er fühlte ihre Anwesenheit, scharf und seltsam, als ob sie auf seine Beschwörung hin gekommen wäre. Der Regen lief ihr über Nacken und Körper. Er hielt sie an, um ihr sein Hemd zu geben. Er schämte sich dafür, weil es schmutzig war; er hatte es in all diesen Wochen getragen. Sie ließ es sich überziehen und schritt sofort weiter. Sie konnte nicht schnell gehen, doch sie ging gleichmäßig, die Augen auf den schwach erkennbaren Fuhrweg gerichtet, dem sie folgten, bis unter den Regenwolken eine frühe Nacht hereinbrach und sie nicht mehr erkennen konnten, wohin sie die Füße setzen mussten.
»Mach Licht«, sagte sie. Ihre Stimme war nur ein klagendes Wimmern. »Kannst du nicht Licht machen?«
»Ich weiß nicht«, sagte er, doch er versuchte, rings um sie ein Werlicht zu entfachen, und nach einem Weilchen leuchtete der Boden vor ihren Füßen ganz schwach.
»Wir sollten eine Unterkunft finden und uns ausruhen«, sagte er.
»Ich kann nicht anhalten«, sagte sie und ging weiter.
»Du kannst nicht die ganze Nacht hindurch gehen.«
»Wenn ich mich hinlege, komme ich nicht mehr hoch. Ich will den Berg sehen.«
Ihre dünne Stimme wurde übertönt vom vielstimmigen Regen, der über die Hügel und durch die Bäume fegte.
Sie gingen weiter in die Dunkelheit hinein und sahen nur das kleine Stück Wegs unmittelbar vor ihnen im schwachen Schein des Werlichts, durchkreuzt von silbernen Regenfäden. Als sie stolperte, hielt er sie beim Arm. Danach gingen sie dicht aneinander geschmiegt weiter, zum Trost und um des Bisschens an Wärme willen. Sie gingen langsamer und noch langsamer, doch sie gingen weiter. Kein Laut war zu hören außer dem Geräusch des Regens, der vom schwarzen Himmel fiel, und dem leise schmatzenden Geräusch ihrer durchgeweichten Füße im Schlamm und im nassen Gras des Weges.
»Schau«, sagte sie und blieb stehen. »Schau, Medra.«
Er war fast schlafend dahingewankt. Das bleiche Werlicht war erloschen, aufgesogen von einer schwächeren, diffusen Helligkeit. Himmel und Erde waren einheitlich grau, doch vor und über ihnen erschien, sehr hoch über einer Wolkenschicht, der lange Grat des Berges in rotem Schein.
»Da«, sagte Anieb. Sie zeigte auf den Berg und lächelte. Sie sah ihren Begleiter an, dann langsam zu Boden. Sie sank auf die Knie. Er kniete zusammen mit ihr nieder, versuchte sie zu stützen, doch sie entglitt seinen Armen. Er wollte zumindest verhindern, dass ihr Kopf in den Schlamm des Weges sank. Glieder und Gesicht verzogen sich, die Zähne klapperten. Er hielt sie fest an sich gedrückt und versuchte, sie zu wärmen.
Sie machte Anstalten, sich wieder aufzusetzen, schaute auf, doch ein Zittern und Beben überfiel und schüttelte sie. Sie rang nach Luft. Im roten Licht, das jetzt vom Gipfel des Berges und vom gesamten östlichen Himmel ausstrahlte, sah er, dass ihr roter Schaum und Speichel aus dem Mund liefen. Ab und zu klammerte sie sich an ihn, doch sie sprach nicht mehr. Sie rang mit dem Tod, rang nach Luft, während das rote Licht schwächer wurde und in ein Grau verdämmerte, während erneut Regenwolken über den Berg fegten und die aufgehende Sonne verbargen. Es war heller Tag, und es regnete, als auf ihren letzten Atemzug kein weiterer mehr folgte.
Der Mann, dessen Name Medra war, saß mit der toten Frau im Arm im Schlamm und weinte.
Ein Fuhrmann vor seinem Maultier und einer Ladung Eichenholz aus dem Farien-Wald kam daher und nahm beide mit nach Waldkant. Er konnte nicht erreichen, dass der junge Mann die tote Frau losließ. Schwach und zittrig, wie er war, wollte er seine Last nicht auf der Ladung Holz ablegen, sondern kletterte mit ihr ins Innere des Wagens und hielt sie all die Meilen bis Waldkant fest. Er sagte
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