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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Dunkel heraus, »es gebe da eine Insel, wo Gerechtigkeit herrscht wie zur Zeit der Könige. Man nennt sie Morreds Insel. Aber es ist nicht das Enlad der Könige und auch nicht Ea. Diese Insel liegt südlich, nicht nördlich von Havnor, heißt es. Dort hüten Frauen von der Hand das alte Wissen und Können, heißt es, und sie geben Unterricht darin, behalten nicht alles für sich, wie die Zauberer das tun.«
    »Wenn du dort Unterricht bekommst, kannst du dem Zauberer vielleicht eine Lektion erteilen«, sagte Met.
    »Vielleicht kannst du diese Insel finden«, ergänzte Ayo.
    Otter sah von der einen zur anderen. Eindeutig war das ihr größtes Geheimnis, das sie ihm da enthüllten, und ihre ganze Hoffnung.
    »Morreds Insel«, sagte er.
    »So nennen nur die Frauen von der Hand sie, um die Bedeutung vor den Zauberern und Piraten geheim zu halten. Bei denen hat sie bestimmt einen anderen Namen.«
    »Es wird sicher ein sehr langer Weg«, meinte Met.
    Für die Schwestern und alle Dorfbewohner war der Berg Onn die Welt und die Küsten von Havnor die Grenze des Universums. Jenseits davon gab es nur Gerüchte und Träume.
    »Du kommst ans Meer, wenn du nach Süden gehst, heißt es«, sagte Ayo.
    »Er weiß das, Schwester«, wandte Met ein. »Hat er uns nicht erzählt, er sei Schiffsbauer? Aber es ist ein schrecklich weiter Weg hinunter zum Meer, bestimmt. Mit diesem Zauberer auf den Fersen, wie willst du da hinkommen?«
    »Mit dem Wasser, das alle Spuren auslöscht«, erklärte Otter und stand auf. Walnussschalen rieselten ihm aus dem Schoß. Er nahm den Herdbesen und kehrte sie in die Asche. »Ich gehe jetzt besser.«
    »Hier ist Brot«, sagte Ayo, und Met eilte, hartes Brot und harten Käse in einen Beutel zu packen, der aus einem Schafmagen gemacht war. Sie waren sehr arm. Sie gaben ihm, was sie hatten. So hatte Anieb es auch getan.
    »Meine Mutter ist in Endweg geboren, hinter dem Faliem-Wald«, sagte Otter. »Kennt ihr die Stadt? Sie heißt Rose und ist Rowans Tochter.«
    »Die Fuhrleute fahren hinunter nach Endweg, im Sommer.«
    »Wenn jemand mit ihren Leuten dort sprechen könnte, so würden sie ihr's weitersagen. Ihr Bruder Esching kommt gewöhnlich jedes Jahr oder jedes zweite Jahr in die Stadt.«
    Sie nickten.
    »Wenn sie wüsste, dass ich am Leben bin...«, begann er.
    Aniebs Mutter nickte. »Sie soll es erfahren.«
    »Nun geh«, drängte Met.
    »Geh mit dem Wasser«, sagte Ayo.
    Er umarmte sie und sie umarmten ihn; dann verließ er das Haus.
    Er lief hinunter durch die verstreut liegenden Hütten zum schnellen, tosenden Fluss, den er in all seinen Nächten in Waldkant durch den Schlaf hatte rauschen hören. Er betete zu ihm. »Nimm mich auf und rette mich«, bat er ihn. Er sprach den Zauber, den der große Wandler ihn vor langer Zeit gelehrt hatte, und sprach die Worte der Verwandlung. Dann kniete kein Mensch mehr am laut rauschenden Wasser, sondern ein Otter schlüpfte hinein und war fort.

3. Seeschwalbe
     
    Da war ein weiser Mann auf unserem Hügel,
    der wusst' seinen Willen wirken zu lassen.
    Er änderte die Gestalt,
    er änderte den Namen,
    doch nie wird der andere derselbe sein.
    So läuft das Wasser fort und fort,
    so läuft das Wasser fort.
     
    An einem Wintemachmittag erhob sich an den Ufern des Onneva-Flusses, dort, wo er sich zur großen nördlichen Bucht von Havnor weitet, ein Mann vom nassen Sand: ein ärmlich gekleideter Mann in schlechten Schuhen, ein schmaler brauner Mann mit dunklen Augen und so dichtem Haar, dass der Regen daran hinablief. Es regnete an dem flachen Küstenstrich bei der Flussmündung, der feine, kalte, triste Regen dieses grauen Winters. Seine Kleider waren triefnass. Er zog die Schultern hoch, sah sich um und steuerte auf das Rauchwölkchen aus einem Schornstein zu, das er weit hinten an der Küste sah. Hinter ihm waren die Fußspuren eines Otters zu sehen, der auf vier Beinen aus dem Wasser kam, und die Fußspuren eines Mannes auf zwei Beinen, die davon wegführten.
    Wohin er dann ging, erzählen die Lieder nicht. Sie verraten lediglich, dass er wanderte: »Er wanderte von Land zu Land.« Wenn er an der Küste der großen Insel entlang zog, könnte er in vielen Dörfern dort eine Hebamme, eine weise Frau oder einen Zauberer getroffen haben, die das Zeichen der Hand kannten und bereit waren, ihm zu helfen; höchstwahrscheinlich aber verließ er Havnor, sobald er konnte, schiffte sich als Bootsmann auf einem Fischkutter in der Meerenge von
    Ebavnor ein oder auf einem Frachter auf

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