Das Vermächtnis von Erdsee
einer nach dem anderen.
Ein ganz leises, seufzendes Kräuseln lief über die langsamen, glatten Wellen.
»Meister«, rief Medra und war sogleich auf den Beinen, »wach auf!«
»Was ist?«
»Zauberwind kommt auf. Rückenwind. Holt die Segel ein.«
Kein Lüftchen regte sich. Die Luft war mild, das große Segel hing schlapp herab. Nur die Sterne im Westen verblassten und verschwanden in der stillen Finsternis, die langsam heraufzog. Der Meister schaute darauf. »Zauberwind, sagst du?«, fragte er widerwillig.
Zauberer benutzen Wetter als Waffe, sie schicken Hagel, um das Getreide eines Feindes zu vernichten, oder Sturm, um seine Schiffe zu versenken; und solche Stürme, tückisch und wild, können noch weit über den Ort hinaus blasen, zu dem sie geschickt wurden, und stören dann Landbewohner und Seeleute meilenweit im Umkreis.
»Holt die Segel ein«, befahl Medra. Der Meister gähnte, fluchte und begann damit, seine Kommandos zu brüllen. Langsam stand die Mannschaft auf und holte das unhandliche Segel ein, und nachdem der Rudermeister mehrfach beim Meister und bei Medra nachgefragt hatte, brüllte er die Sklaven an, ging durch die Reihen und rüttelte sie mit Peitschenhieben nach rechts und links auf. Das Segel war halb eingeholt, Medras Haltezauber halb gesprochen, die Ruder waren halb bemannt, als der Zauberwind hereinbrach.
Er brach los mit einem einzigen riesigen Donnerschlag aus plötzlicher, tiefster Finsternis und wildem Regen. Das Schiff schlingerte wie ein sich bäumendes Pferd und rollte dann so fest und so weit, dass sich der Mast aus seiner Verankerung löste, obwohl die Halterungen fest blieben. Das Segel fiel ins Wasser, lief voll und zog die Galeere ganz auf eine Seite; die großen Wellen liefen durch die Ruderlöcher herein, die angeketteten Sklaven strampelten und schrien auf ihren Bänken, Ölfässer lösten sich und rumpelten übereinander - all das zog das Schiff auf eine Seite und hielt es dort, das Deck senkrecht zum Meeresspiegel, bis eine große Sturmwelle darüber hinwegschwappte und es sank. All das Schreien und Kreischen menschlicher Stimmen war plötzlich verstummt. Zu hören war nur das Röhren von Regen und Meer, das nachließ, als der tückische Wind nach Osten abzog. In ihm stieg flügelschlagend ein Seevogel vom schwarzen Wasser auf und flog, zerbrechlich und verzweifelt, nach Norden.
Im ersten Morgenlicht sah man auf dem schmalen Sandstreifen unter den Granitfelsen die Spuren eines aufsetzenden Vogels. Davon aus gingen die Fußstapfen eines Mannes, schweiften weit über den Strand, bis dorthin, wo er schmaler wurde zwischen Felsen und See. Dann hörten die Spuren auf.
Medra wusste, wie gefährlich es war, wiederholt eine andere Gestalt als die eigene anzunehmen, aber er war erschüttert und geschwächt von dem Schiffbruch und dem langen Flug durch die Nacht, und der graue Strand führte ihn lediglich bis zum Fuß glatter Felsen, die er nicht hinaufklettem konnte. Er wirkte den Zauber und sprach noch einmal das Wort, da flog rasch eine Seeschwalbe auf, erreichte mit kräftigem Flügelschlag die Spitze der Klippen. Berauscht vom Fliegen, glitt er weiter über schattiges Land in der aufgehenden Sonne. In der Feme sah er, leuchtend im ersten Sonnenlicht, die Wölbung eines hohen grünen Hügels.
Dorthin flog er und landete, und sobald er den Boden berührte, war er wieder Mensch.
Verwundert stand er eine Zeit lang da. Es kam ihm so vor, als sei es nicht sein Wille oder seine Entscheidung gewesen, die eigene Gestalt anzunehmen, sondern als sei er bei der Berührung mit diesem Boden, mit diesem Hügel, wieder er selbst geworden. Ein mächtigerer Zauber als sein eigener war hier wirksam.
Neugierig und misstrauisch sah er sich um. Der Hügel war ganz übersät mit blühendem Güldenkraut; die langen Blütenblätter leuchteten gelb aus dem Gras hervor. Die Kinder auf Havnor kannten diese Blume. Sie nannten sie >Funken<, nach dem Brand von Ilien, als der Drache Orm, der Feuerherr, die Inseln überfiel und Er-reth-Akbe ihm bis in den äußersten Westen nach Selidor nachsetzte. Geschichten und Lieder über die Helden kamen Medra in den Sinn, als er da stand: Erreth-Akbe und die Helden vor ihm, Akambar, der die Kargs in den Osten führte, und Serriadh, der Friedensstifter, und der Magier Ath und Morred, der Weiße Zauberer, der geliebte König. Die Tapferen und die Weisen, alle traten sie vor ihn hin, wie heraufbeschworen, als ob er sie zu sich gerufen hätte, dabei hatte er nicht
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