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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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gerufen. Er sah sie. Sie standen im hohen Gras inmitten der flammengleichen Blüten, die im Morgenwind schwankten.
    Dann waren alle fort, und er stand allein auf dem Hügel, erschüttert und verwundert. Ich habe die Lords und Könige der Erdsee gesehen«, dachte er. »Und sie sind nur das Gras, das auf diesem Hügel wächst.«
    Langsam wanderte er um die Hügelkuppe herum auf die östliche Seite, wo es vom Licht der ersten Sonne schon warm und hell war, obwohl sie erst zwei Finger hoch über dem Horizont stand. In dieser Richtung sah er die Dächer einer Stadt im Innern einer Bucht, die sich nach Osten öffnete, und dahinter die hohe Horizontlinie des Meeres. Nach Westen sah er Felder, Weiden und Straßen. Nach Norden erstreckten sich lange grüne Hügel. Nach Süden zog in einer Senke ein Wäldchen aus schlanken Bäumen den Blick auf sich und fesselte ihn.
    Er dachte, das sei der Anfang eines großen Waldes wie des Faliern-Waldes auf Havnor, und dann wusste er nicht, warum er das dachte, weil er hinter dem Wäldchen baumlose Heide und Weiden sah.
    So stand er lange da, bevor er durch hohes Gras und das Güldenkraut den Hügel hinunterstieg. Am Fuß des Hügels gelangte er auf einen Feldweg. Der führte ihn durch Ackerland, das wohl bestellt aussah, jedoch sehr einsam. Er hielt Ausschau nach einem Weg oder Pfad, der ihn in die Stadt führen würde, doch es gab keinen Weg, der nach Osten führte. Keine Menschenseele war auf den Feldern, obwohl einige frisch gepflügt waren. Kein Hund bellte, als er weiterging. An einer Wegkreuzung allerdings kam ein alter Esel, der auf einer steinigen Wiese gegrast hatte, an den Holzzaun getrabt und streckte den Kopf herüber, auf der Suche nach Gesellschaft. Medra blieb stehen und streichelte das knochige, graubraune Gesicht. Als Stadtmensch und Seefahrer wusste er wenig vom Landleben und seinen Tieren, aber er fand, der Esel sehe ihn freundlich an. »Wo bin ich, Esel?«, fragte er ihn. »Wie komme ich in die Stadt, die ich gesehen habe?«
    Der Esel lehnte den Kopf fest gegen seine Hand, damit er ihm weiter die Stelle genau über dem Auge und unter den Ohren kraulte. Als er dies tat, knickte er das rechte Ohr ab. Als er den Esel verließ, ging Medra daher an der Kreuzung nach rechts, obwohl es so aussah, als ob der Weg zurück zum Hügel führen würde; und schon bald tauchten Häuser auf, und er kam auf eine Straße, die ihn in die Stadt im Innern das Bucht führte.
    Hier war es genauso merkwürdig still wie auf dem Land. Keine Stimme, kein Gesicht. Es war schwer, sich in einer ganz gewöhnlichen Stadt an einem lauen Frühlingsmorgen unbehaglich zu fühlen, aber bei einer solchen Stille musste er sich fragen, ob er nicht tatsächlich an einem Ort gelandet war, den eine Seuche heimgesucht hatte, oder auf einer verfluchten Insel. Er ging weiter. Zwischen einem Haus und einem alten Pflaumenbaum war eine Wäscheleine gespannt, daran hingen Kleider, die in Sonne und Wind flatterten. In einem Garten kam eine Katze um die Ecke, keine verhungerte, streunende Katze, sondern ein wohl genährtes Tier mit schönem Schnurrbart und weißen Pfoten. Und schließlich, als er über eine steile kleine Straße mit Kopfsteinpflaster hinunterging, hörte er Stimmen.
    Er blieb stehen, um zu lauschen, und hörte nichts.
    Er ging bis ans Ende der Straße. Sie mündete in einen kleinen Marktplatz. Dort waren Menschen versammelt, nicht viele. Sie waren nicht mit Kaufen und Verkaufen beschäftigt. Es gab keine Buden oder Stände. Sie erwarteten ihn.
    Seitdem er über den grünen Hügel gegangen war, der sich hinter der Stadt erhob, und die hellen Schatten im Gras gesehen hatte, war er leichten Herzens gewesen. Er war voller Erwartung, voll eines großen Gefühls der Fremdheit, aber ohne Angst. Er stand still und betrachtete die Leute, die auf ihn zukamen.
    Drei von ihnen traten vor: ein weißhaariger alter Mann, groß und mit breitem Brustkorb, und zwei Frauen. Zauberer untereinander erkennen sich, und Medra wusste, dass die beiden Frauen Magierinnen waren.
    Er hob die zur Faust geschlossene Hand und drehte sie dann um, die Handfläche nach oben.
    »Ah«, sagte eine der beiden Frauen, die größere, und lachte. Aber sie erwiderte die Geste nicht.
    »Sag uns, wer du bist«, verlangte der weißhaarige Mann, recht freundlich, doch ohne Gruß und Willkommen. »Erzähl uns, wie du hierher gekommen bist.«
    »Ich bin in Havnor geboren und gelernter Schiffsbauer und Zauberer. Ich war auf einem Schiff auf dem Weg von

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