Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
ferne Zukunft seine Entsagung belohnen wird.
In der ersten Zeit versucht er noch, an der Liebe festzuhalten, die er vier Jahre lang für mein Kind empfunden hat. Aber er begreift nicht, dass er die Liebe zu einem einzelnen Kind nicht ersetzen kann durch eine Liebe zu allen, wie er sie sich selbst abfordert. So entsteht eine Leere zwischen ihm und meinem Sohn, weil es jenseits einer innigen Vergangenheit und einer vorgestellten Zukunft keinen Ortfür die Gegenwart gibt. Bei den mühsam organisierten geheimen Treffen im Zoo, im Kino oder auf einem Fußballplatz verwandelt sich das Gefühl von einst in einen fernen Anspruch, sich einer besseren Welt für alle Kinder zu verschreiben. Einmal, als die Interessen eines Sechsjährigen der Vorsicht eines zukünftigen Illegalen entgegenstehen, kommt es zum Konflikt. Mein Sohn lässt Philip S. spüren, dass er längst durchschaut hat, was er nicht sehen soll. Der Mensch, dem er vertraut und den er liebt, ist bereit, ihn aufzugeben, weil er sich nicht, wie er vorspiegelt, wegen einer Arbeit aus dem gemeinsamen Leben absetzt, sondern wegen etwas anderem, über das geschwiegen wird. Er sagt es ihm, und er sagt es laut, im Bus, damit alle es hören können. Als Philip S. ihn in diesem Augenblick schlägt, was er noch nie zuvor getan hat, zerstört er etwas. Danach werden sie sich nur noch einmal sehen, und er wird nichts mehr an die Stelle dessen setzen können, was zerbrochen ist.
Als mein Sohn nach den Sommerferien seinen ersten Schulranzen trägt, nimmt Philip S. ein letztes Mal nach außen hin die Rolle eines Vaters ein. Aber er ist nur noch Statist. Er bleibt abseits, ist schon abgetrennt. Auf dem Foto, das ich von diesem Tag mache, ist sein Gesicht nicht zu sehen. Die Kamera richtet sich auf die Kinder, die darauf warten, dass es losgeht mit der Schule. Sie stehen mit durchgedrückten Knien in einer kleinen Gruppe zusammen. Der Ranzen auf dem Rücken meines Sohns reicht Philip S. bis zum Gürtel. Nur daran kann ich heute noch erkennen, dass er der Mann im unauffälligen Konfektionsjackett am Bildrand ist.
Als eine Polizistin bei der nächsten Hausdurchsuchung ins Kinderzimmer geht und nach ihm fragt, schweigt meinSohn. Sie fragt im Plauderton. Aber er kriecht unter die Bettdecke, kommt am Fußende wieder hervor und läuft davon.
XXV
Er hat mir einen Schlüssel gegeben. Ich warte auf die Dunkelheit. Aber noch ist es Sommer, und die Nacht kommt spät. Ich kleide mich dunkel und verschwinde, wenn alle schlafen. Ich nehme nicht den direkten Weg, gehe zuerst in die entgegengesetzte Richtung, steige hinunter in die U-Bahn, verlasse den Bahnsteig über einen anderen Ausgang, tauche unter in einer Parkanlage, verlasse sie wieder, tue so, als ginge ich in einen Hauseingang, warte ein wenig und gehe weiter, schlendere an Schaufenstern entlang und wende den Kopf unauffällig nach allen Seiten. Wenn ich schließlich in der kleinen Straße ankomme, in der er jetzt wohnt, habe ich eine halbe Stunde für einen Weg benötigt, den ich sonst in fünf Minuten gegangen wäre. Manchmal ist er zur verabredeten Zeit noch nicht zu Hause. Dann warte ich in der trostlosen Stube und finde nichts, was mich mit ihm vereint. Da steht der Stuhl, der Tisch, darüber die Glühbirne. In der Küche ein Topf, eine Pfanne, zwei Tassen, zwei Teller, zwei Messer, zwei Gabeln, von allem zwei, eins davon für mich. Die Toilette auf der Treppe, der Schlüssel hängt neben der Tür. Ich lege mich in das schmale Bett und versuche, vor der Einsamkeit hinter den Dingen in den Schlaf zu flüchten. Aber immer wieder wache ich von unbekannten Geräuschen auf. Sein Doppelleben hat inzwischen einen festen Rhythmus angenommen. Tagsüber der Unterricht an der Kunsthochschule unter seinem richtigen Namen. Danach verschwiegene Treffenmit Grenzgängern. Als er schließlich kommt, umarme ich einen Mann, der erst eine Verkleidung ablegen muss, um mir wieder vertraut zu sein. Aber es gibt jetzt eine Effizienz in allem, auch in der Liebe. Sie muss abrufbar sein zum vereinbarten Augenblick. Zwischen uns ist kein Überfluss mehr. Alles ist knapp bemessen, die Zeit, die Gefühle und auch die Worte. Sie werden unerbittlich und zielgerichtet. Aus ihnen verschwindet die Nachsicht, die Geduld, das Zögern. Er führt kein Gespräch mehr, er schätzt ein. Es fallen Sätze, auf die ich nicht antworten kann, Sätze, die mich an die Wand drängen, die große Ziele beschwören, für die das Opfer lohnt, zu dem ich nicht bereit bin, wie er
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