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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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Boden. Ahnungslos sitze ich in einer fast leeren Wohnung auf einem Bett, unter der Matratze Waffen. Der Bayer hat seine Lodenjacke abgelegt und einen langen schwarzen Pferdeschwanz aus dem Hemdkragen gezogen. Einige von denen, die ich dort antreffe, kenne ich aus der Zeit, als die Polizei noch nicht hinter ihnen her war. Andere sind seit kurzem auf den Fahndungsplakaten zu sehen. Ich habe ein Strategiepapier mitgebracht, das gelesen und diskutiert wird, während der in Leinen verpackte schwarze Afghan ausgewickelt, zerkrümelt, mit Tabak vermischt und zur Tüte gerollt, von Hand zu Hand geht. Das Strategiepapier von Philip S. stößt auf wenig Zuspruch. Sie glauben nicht, dass es möglich ist, sich mit illegalen Aktionen in den Betrieben zu verankern. Lieber bleiben sie bei den Brandsätzen, die sie Richtern und Staatsanwälten, ihren direkten Feinden, in die Vorgärten werfen wollen. Damit haben sie Erfahrung, da kennen sie sich aus. Pässe beschaffen sie sich bei gelernten Fälschern. Lenkradschlösser brechen sie mit einem biegsamen Bohrer auf. Geld holen sie sich aus den Banken und besorgen damit die Waffen, auf denen ich sitze, Waffen, die bald von der Polizei gefunden werden und alle, die sich in dem Raum versammelt haben, in denUntergrund treiben oder für kürzer oder länger ins Gefängnis bringen.
    Dennoch unternehme ich eine weitere Reise für ihn. Bei gleißender Sonne fahre ich über schneebedeckte Pässe nach Italien, den Ellenbogen im heruntergekurbelten Fenster des Peugeot 404, Bob Dylan auf dem Kassettenrecorder, »… send a message to Mary, but don’t tell her, where I am«. Noch ist das besetzte Haus in Mailand nicht von der Polizei geräumt. Ich komme zum Abendessen, schlafe in einer kleinen Kammer und werde am nächsten Tag mit einem Fiat an einen Ort gebracht, wo Informationen ausgetauscht werden, die nicht für die am Tisch versammelte Hausgemeinschaft bestimmt sind. Während wir weit hinausfahren in die Vorstädte mit ihren elenden Hochhaussiedlungen, schaut der Fahrer häufiger in den Rückspiegel als nach vorne und führt mir den von Fiat-Arbeitern gefeilten Universalschlüssel vor.
    In einer konspirativen Einzimmerwohnung mit Küche sitze ich einem Mann gegenüber, der zwei Jahre später wegen Entführungen und Morden gesucht werden wird. Sein Englisch ist so schlecht wie mein Italienisch. Er liest die italienische Übersetzung des Strategiepapiers von Philip S., die ich mitgebracht habe. Wieder geht es um den Kampf in den Betrieben und darum, wie der Kampf der Industriearbeiter in den europäischen Metropolen von militanten Gruppen unterstützt werden könnte. Philip S. stellt sich zeitlich koordinierte Aktionen in Nord-Süd-Richtung vor, von Deutschland bis Italien. Mitten in der Lektüre schreckt der Mann hoch. Ein leises rhythmisches Klopfen ist an der Eingangstür zu hören. Er steht auf und öffnet. Vom Flur her Stimmen, aus der Küche Wortfetzen. Von einemTransport ist die Rede, von der Grenze, von Carabinieri und Verhaftungen. Vom neunten Stock aus schaue ich in die tristen Häuserschluchten hinab. Ich weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Bei den Verhören der Polizei, die vielleicht schon im Gang sind, können Namen und Adressen preisgegeben werden. In letzter Minute, wie mir scheint, verlasse ich die Wohnung und komme davon.
    Noch trennen ihn die gefälschten Pässe und heimlichen Treffen nicht endgültig von dem großen Tisch am Abend, der uns vereint. Solange wir zusammen sind, gehört er zu dem Leben mit meinem Kind und unseren Freunden. Aber es entsteht ein Schweigen um ihn, wenn alle etwas erzählen und er nichts erzählt. Im Frühjahr 1971 fahren wir noch einmal in die Schweiz. Philip S. ist bereits so tief in das Handwerk des Illegalen eingedrungen, dass er Kontakte sucht, die ihm Zugang zu Waffen verschaffen sollen. Es wird unsere letzte gemeinsame Reise sein. Je riskanter seine Vorhaben, umso enger will er mich an seiner Seite sehen. Wenn ich noch ein Stück des Wegs mit ihm gehe, denke ich, kann ich sie abwenden, diese trostlose Existenz im Untergrund, und sie wird nur eine Vorstellung bleiben und nicht Wirklichkeit werden. So halte ich Wache über dem letzten Abschnitt unseres gemeinsamen Lebens. Und weil die Liebe, die es noch zwischen uns gibt, nach Gemeinsamkeit verlangt, halte ich bei seinen Versuchen, die Lenkradschlösser fremder Autos aufzubrechen, auch dann noch Wache, als nichts mehr die Gefahr aufwiegt oder rechtfertigt, in die ich mich an seiner Seite

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