Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
begebe.
Er trifft sich zum letzten Mal mit seinen Eltern, um ihnen zu sagen, dass er mich heiraten will. Zum ersten und zum einzigen Mal betrete ich das Haus in der Resedastraßefür wenige Augenblicke. Dann sitzen wir unbehaglich beim Essen in einem Restaurant. Schon auf dem Absprung und bereit, sich von allem zu lösen, will er eine falsche Ordnung schaffen und eine offizielle Bindung, für die ihm keine Zeit mehr bleibt. Dann geht er zur Bank und zu einem Rechtsanwalt. Er hinterlegt eine Vollmacht, die mir Zugang zu einem Nummernkonto verschaffen soll. Er möchte damit etwas sichern, ein Erbe, falls der Fall je eintreten sollte, für ihn und auch für mich. Ich kann mich noch an den Namen der Bank und den des Rechtsanwalts erinnern, bei dem er alles hinterlegt hat, aber die geheime Nummer habe ich vergessen und den Zettel mit den verschlüsselten Zahlen verloren. Möglicherweise liegt noch immer eine Beute aus Banküberfällen auf diesem Konto, Geld, das er vielleicht dort deponierte, um sein Leben, seine Reisen, seine Ausstattung oder was auch immer zu finanzieren. Wenn er nicht mehr dazu gekommen ist, es abzuheben, muß es zurückgeflossen sein in den Kreislauf, den er unterbrechen wollte, und das Geld wird dort bleiben, namenlos und für immer.
Als wir zurückfahren, glaubt der Grenzbeamte am Baseler Bahnhof in mir eine gesuchte Person zu erkennen. Es ist mein Haarschnitt, der den Beamten auf eine falsche Fährte lockt. Ich werde aus dem Abteil geholt, und es dauert eine ganze Weile des Nachfragens per Telefon, bis er seinen Irrtum begreift. Der Zug ist fort. Philip S. fährt alleine weiter mit einer Reisetasche, in der sich, zwischen Kleidungsstücken verborgen, Waffen aus der Schweiz befinden.
XXIII
Bis zu dem Tag, an dem er es tat, glaubte ich nicht, dass er es tun würde. Ich sehe, wie er das wenige, was er besitzt, aufgibt, ich nehme wahr, was unter meinen Augen vorgeht. Aber ich habe keinen Zugang mehr zu dem inneren Ort, an dem seine Vorstellung zum Entschluss und schließlich zur Tat reift. Es ist der Bereich, wo es nur ihn gibt und niemand sonst. Und weil in seinem Leben alles eine Form hat, entwirft er wie in einem Szenenwechsel eine Vorstellung von seiner zukünftigen Existenz als Mensch im Untergrund. Er entwirft sie, wie er einmal seine Existenz als Künstler entworfen hat. Und wie er seinem Leben als Künstler eine perfekte Gestalt gegeben hat, muss auch sein Leben im Untergrund stimmen, bis in die letzte Einzelheit. Den schwarzen Mantel trägt er schon lange nicht mehr. Auch nicht die Hemden mit dem Monogramm und nicht den Anzug. In der Fabriketage hängen die Dinge vergessen auf der Kleiderstange wie die Überbleibsel eines abgelegten Selbstbildes. Er trägt auch die Pferdelederschuhe nicht mehr. Er will jetzt wie alle aussehen, kauft sich eine Konfektionsjacke von C&A und zieht statt des alten, beim Waschen eingelaufenen Kaschmirpullovers einen schwarzen Polyesterrollkragenpullover von Woolworth über, mit einem sportlichen Streifen in Brusthöhe.
Er beginnt die Fotos zu vernichten, die es von ihm gibt. Es sind die, die ich gemacht habe. Er tut es nachts. Aus den Ordnern, in denen die Kontaktbögen abgeheftet sind,nimmt er die Bilder unseres gemeinsamen Lebens heraus. Er verbrennt sie, eins nach dem anderen, in der Hand. Die Negative schneidet er in winzige Teilchen. Kein Abbild von ihm aus früheren Zeiten soll irgendwo überdauern. Manchmal übersieht er das eine oder andere, und es fällt mir später in die Hände. Er plant seine Unauffälligkeit, wie er einmal seine Auffälligkeit geplant hat. Er wird zu einem, an den man sich nicht erinnern soll. Wenn er auf der Straße Bekannte trifft, die ohne Zögern an ihm vorbeigehen, wiegt er sich in Sicherheit.
Er vernichtet nicht nur seine Vergangenheit. An seinem Rückzug gehen die kleinen, selbstverständlichen Gesten zugrunde. Er ordnet sie einer Entscheidung unter, der er sich selbst unterworfen hat, freiwillig, um eines Zieles willen, das er nur in der Entsagung erreichen zu können glaubt. So legt der Schwur, nie mehr ins Gefängnis zu gehen, sein Leben auf einen einzigen, einmal gefassten Entschluss fest. Daran hält er sich. Keine Notwendigkeit bestimmt, was er jetzt zu tun gedenkt. Den einstigen künstlerischen Anspruch an sich selbst hat er durch einen heroischen Auftrag ersetzt, der über sein Leben hinausgeht. Sonst gibt es nichts. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er habe alles gehabt, sagt er, eine Frau und ein Kind. Er könne
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