Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
und sagt verschlüsselt die Adresse durch. Einmal ist er krank und liegt auf einer Bank in einem kleinen Park. Ich gehe für ihn in die Apotheke und besorge ein Medikament. Dann bringe ich ihn in eine andere Parterrewohnung am Ende einer Straße, die den Namen meines Sohnes trägt und deren einziges Zimmer von der Berliner Mauer in stetem Halbdunkel gehalten wird. Wir sehen uns noch einmal in dem italienischen Eiscafé an der Uhlandstraße, wo es den ersten Cappuccino gab. Noch trägt er keine Waffe unter seinem Jackett, aber er hat den Blick auf die Tür gerichtet, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen und durch den Ausgang in seinem Rücken Richtung Düsseldorfer Straße zu verschwinden. Ich vermeide, seinen Namen zu sagen, den alten und den neuen. Erst jetzt kann ich von dem sprechen, was er ohnehin schon weiß: von Abkehr, von Trennung, davon, dass es vorbei ist, dass ich ihn verlasse, dass ich mich endgültig entfernt habe, von ihm und von seinen Zielen. Dann stecke ich ihm die Adresse eines Arztes zu. Er arbeitet in einem Krankenhaus in Köln, und ich weiß, dass er ihm helfen wird, wenn er in seinem zukünftigen Leben ärztliche Hilfe brauchen sollte.
Abschiede sind unbegreiflich wie der Tod. Philip S. und ich trennen uns an einer Haltestelle. Wir umarmen uns kurz und unauffällig. Dann kommt der Bus, ich steige ein, der Bus fährt an. Ich sehe ihn durch die Scheibe. Er schaut mir nicht nach. Er sitzt auf einer Bank und verbirgt sein Gesicht in den Händen.
XXVI
Ich werde Berlin verlassen. Obwohl ich ihn nicht mehr sehe, hat mich die Bedrohung fest im Griff. Im Morgengrauen wache ich auf. Die Schläge an der Eisentür sind seltener geworden, aber ich horche noch immer darauf. Wenn es zu lang oder zu heftig klingelt, schlägt mein Herz schneller. Eilig vergewissere ich mich, ob es etwas zu beseitigen gibt, und frage, wer da ist. Ich weiß nicht, ob ich die eingeübte Wachsamkeit wieder loswerden kann, aber ich möchte mich nicht mehr absichern, bevor ich einem Menschen die Tür öffne.
Ich werde nach Frankfurt ziehen, wo der Vater meines Kindes jetzt lebt. Ich möchte, dass mein Sohn in seiner Nähe und in der Nähe seiner Großeltern aufwächst. Ich trenne mich von vielen Dingen. Stück für Stück werden sie aus dem Haus getragen. Zwei alte Schränke nimmt mein Bruder mit. Den Leinenanzug von Philip S. trägt jetzt einer der rausgeworfenen Studenten der Filmakademie, der ein Bewunderer des Einsamen Wanderers bleiben wird. Der lange schwarze Mantel passt einem Maler. Er nimmt auch die Hemden mit dem eingestickten Initial eines Namens, von dem er nicht weiß, dass er bald auf den Fahndungslisten stehen wird. Den weißen Seidenschal werde ich selber tragen, bis er zerfällt. Alles andere packe ich in einen Container, der mit der Bahn nach Frankfurt gebracht wird. Dann nehme ich Abschied von den Menschen und jenem Ort, an dem ich mit Philip S. hatte bleiben wollen.
Zwei Jahrzehnte später wird mein Sohn in das Haus zurückkehren, um dort mit seiner Familie zu leben. Wenn ich den Weg durch die beiden Höfe gehe, schaue ich wieder nach oben, ob Licht hinter der langen Fensterfront zu sehen ist. Ein Filmplakat mit dem Titel »Etwas wird sichtbar« hängt noch an der Hauswand. Es verschwindet erst, als das Gebäude renoviert wird. Wenn ich die Treppe hinaufsteige, komme ich an dem kleinen, in die Tür eingeschweißten Rechteck vorbei, das auch unter der neuen Farbe noch zu erkennen ist, dessen Bedeutung aber den vielen Menschen, die in den Jahren hier ein- und ausgezogen sind, verborgen bleibt. Die Schwester des vierundvierzigsten amerikanischen Präsidenten wird eine von ihnen sein. Wie so viele, die in diesem Haus gelebt haben, hat sie an der Berliner Akademie das Handwerk des Filmemachens erlernt.
Mein Sohn klettert nach hinten in den Citroën-Kastenwagen; ich habe ihm dort ein Bett gemacht. Auf dem Dach sind alle Thonetstühle, die um unseren großen Tisch gestanden haben, aneinandergezurrt. Wir fahren langsam durch die Nacht, auf ein neues Leben zu, das sich hinter einer Etagentür aus geriffeltem Glas abspielen wird. Durch das Glas lassen sich die Umrisse erkennen, wenn jemand davorsteht. Es ist eine große Wohnung, und ich lebe wieder mit anderen zusammen. Ich habe mich in einen Mann verliebt, der aus London zu mir gekommen ist. Er wird in einem Arbeiterviertel mit arbeitslosen italienischen Jugendlichen das »Teatro Siciliano« gründen. Morgens schaue ich meinem Sohn nach, wenn er die Eschersheimer
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