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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Edschmid
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gehen.
    Er tut es ohne Not. Noch gibt es nichts, was ihn drängt zu verschwinden, keine Liebe, die zu Ende ist, keine neue Liebe, der er folgen will, keinen Haftbefehl. Es gibt Mutmaßungen. Aber sie bleiben Verdacht und reichen nicht aus für eine Festnahme. Er geht, bevor ihn die Umstände dazu zwingen. Er hat lange genug darüber nachgedacht. Wenn er noch länger zögert, wird er es vielleicht nie tun. Was er eigentlich will, wird er erst herausfinden, nachdem er es getan hat.
    Er tut es an einem beliebigen Tag. Es hätte auch jeder andere Tag sein können. Ich schaue ihm nach, als er durch den Hof geht. Er begegnet dem Hausbesitzer, der ihn an die Äpfel erinnert, die wir, wenn der Herbst kommt, wieder ernten sollen, und ich sehe, wie er es ihm verspricht.
    Ich habe ihn nicht zurückgehalten. Seinem Verzicht konnte ich nichts entgegensetzen, es gab nichts, das ich hätte in die Waagschale legen können, außer der verwirrenden Vielfalt des Daseins und dem Glauben an die Möglichkeit eines richtigen Lebens in einer falschen Welt. Das stumme Ringen um meine eigene Wahrheit hatte mich erschöpft. Der Arzt verschreibt mir Eisensaft. Aus Versehen nehme ich zu viel. Der Raum um mich herum beginnt zu schwanken, verzieht sich in Wellenbewegungen, die Stimmen entfernen sich. Ich lege mich hin und wache nach Stunden auf. Die letzte Nacht ist aus meiner Erinnerung verschwunden. Unser gemeinsames Leben ist bereits Vergangenheit. Vielleicht, so kommt es mir in den Sinn, war es für ihn nichts als ein Versuch, ein Experiment, etwas, das wie so vieles in seinem Leben nur eine Zeitspanne ausfüllte, die er mit aller Intensität durchlebte, um sie dann hinter sich zu lassen, weil ihr die Endlichkeit eingeschrieben war.
    Draußen ist es warm und schön. Die Linden blühen.

XXIV
    Er hat das Haus am Morgen verlassen, als ginge er auf eine Reise. Er trägt nur den Koffer, mit dem er vor vier Jahren nach Berlin gekommen war. Sonst hat er nichts mitgenommen. Die Videoanlage hat er schon vorher in die Kunsthochschule gebracht, wo er immer noch Seminare abhält. Später wird er sie verkaufen und den Erlös für sein geheimes Tun und die Ausstattung seiner neuen Daseinsform verbrauchen, von deren Perfektion sein Leben abhängt.
    Auch alle anderen sind am Morgen fortgegangen, ins Ostasiatische Institut, ins Krankenhaus oder wo sie sonst zu tun haben. Mein Sohn ist im Kinderladen. Wenn ich ihn heute Nachmittag abhole, werde ich mir eine Ausrede einfallen lassen. Ich bin froh, dass die Räume nicht leer sind, wenn ich mit ihm und seiner kleinen Freundin nach Hause zurückkomme. Auch die anderen werden dann wieder da sein. Sie werden mich nichts fragen, wenn wir abends beim Essen sitzen. Sie haben die wachsende Entfernung zwischen ihm und mir, seinen langsamen, aber unübersehbaren Rückzug wahrgenommen. Sie haben gesehen, wie er seine wenigen Dinge geordnet hat, wie er immer öfter dem Essen ferngeblieben ist und seinen Tag im Haushalt immer schneller und unbeteiligter hinter sich gebracht hat. Er hat sich abgelöst, täglich ein wenig mehr, ist den anderen fremd geworden und unansprechbar, wenn er seinen verborgenen Zielen folgte. Wortlos hat er sich ausdem Zusammenleben zurückgezogen, und eines Tages war es kein Abschied wie bei H., sondern ein Weggehen, das die anderen auf ihre Weise gedeutet haben. Ich habe nicht widersprochen. Ich habe verleugnet, was mich immer noch nachts, wenn alle schlafen, zu ihm zieht. Ich habe so getan, als wäre es vorüber, eine Trennung zwischen Mann und Frau. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, dass es um den Sinn unseres Lebens ging.
    Irgendjemand hat ihm eine kleine Wohnung in einem Hinterhof überlassen. Sein Name steht nicht an der Tür. Er hat nichts mitgenommen, um sie einzurichten. Den Tisch findet er vor, dazu einen Stuhl, ein schmales Bett. Wenn er an dem Tisch sitzt und ein hartes Licht von der nackten Glühbirne auf das Handbuch des Stadtguerillero von Carlos Marighella fällt, das er nicht liest, sondern studiert, entsteht ein Bild vollkommener Identität. Er ist der, der er sein will, ein anderer, ein Mensch, wie er ihn sich vorgestellt hat. Das Bild, das er von sich selber schafft, ist stärker als das wirkliche Leben. Er hat den Schritt vollzogen, raus aus den für ihn nicht zu bewältigenden Widersprüchen eines offenen Daseins in eine fast mönchische Zelle, wo ihn nichts von seinem Ziel ablenkt. Zwischen Zimmer, Küche und Außentoilette bewegt er sich im Bewusstsein, dass eine

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