Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Klari vorgesungen hatte. Er hebt ihn zum Fenster, und sie schauen den Zügen nach, die gegenüber zwischen den Bäumen auftauchen und verschwinden. Ganze Tage verbringt er mit ihm im Zoo, und abends isst er die Reste seiner kalten Nudeln, die auf dem Teller angetrocknet sind. Wenn er neben ihm geht, ihn an der kleinen Hand hält, berührt sein langer schwarzer Mantel den Bürgersteig. Mit zwanzig Jahren versucht er, für ein Kind da zu sein, das nicht das seine ist. Und er hält einen Schmerz aus, den nicht er mir zugefügt hat. Seine Liebe ist eine auf den ersten Blick. Aber er stürzt sich nicht in Erfahrungen; er entscheidet sich für sie. Von allem Neuen lässt er sich nicht überwältigen, sondern eignet es sich an. Er will auch wissen, wie es ist, das Leben mit Frau und Kind. Seine Liebe ist nicht blind. Sein Begehren verwirrt ihn nicht. Es ist der kleine Tod, sagt er.
Den maßgeschneiderten Mantel, den Anzug und die Hemden hängt er in die Kammer, auf eine Stange neben meine getrödelten Kleider. Die Hemden bringt er abwechselnd in die Wäscherei. Die Kamera legt er in den Glasschrank, die filmtheoretischen Schriften neben die lindgrüne Hermes-Reiseschreibmaschine auf meinen ovalen Tisch. Er braucht wenig Schlaf. Wenn das Dröhnen der S-Bahnzüge gegen Mitternacht abnimmt und schließlich ganz verstummt, rückt er einen Stuhl an den Tisch und entwirft Szenen für einen Film, den er im kommenden Winter drehen wird.
Den Drehort hatte er durch Zufall entdeckt, als er einmal weiter als sonst die breite Ausfallstraße entlangfuhr und irgendwann nach links abbog. Die Havel lag zu seiner Rechten, das Ufer voller Unterholz, aus dem dann undwann Schwäne aufflogen. Am Ende der Havelchaussee bog er noch einmal ab und landete schließlich auf einer kleinen Halbinsel. Dort, wo die einzige Straße in einer Kurve ansteigt, sah er das riesige graue Haus aus der Gründerzeit zwischen hohen kahlen Bäumen, die Äste schwarz von Krähen. Heute sind alle Spuren verschwunden. Wo einmal das Haus stand, weist ein elektrisch gesteuertes namenloses Tor auf einen flachen Neubau aus gelblichem Klinker. Nur ein kurzer Film erzählt in strengen Schwarzweißbildern von einem unheimlichen Gemäuer, dessen Bewohner einst die Nachbarn von Josef Goebbels waren.
IV
Der Film ist grau wie Berlin im Winter, die Bilder fahl wie das Schilf an den Ufern der Havel. Er ist sparsam und aufwendig zugleich. Im Winter 1968, als andere Studenten das Leben von Obdachlosen, den Vietnamkrieg oder die Herstellung eines Molotow-Cocktails dokumentieren, dreht er den Einsamen Wanderer , einen Film, der ihn überleben wird und den niemand versteht. Diese fünfunddreißig Minuten Film bleiben die einzige Spur, die direkt zu ihm führt, zu Philip S., dessen Name in Frakturbuchstaben auf dem Vorspann zu lesen ist wie die Inschrift auf einem Gedenkstein.
Die frühen Morgenstunden auf der Blankenfelder Chaussee. In den Gräben und Pfützen schmutzige Schneereste. Unter einem kalten grauen Himmel zieht sich eine Reihe nackter Bäume unregelmäßig zu beiden Seiten der Straße entlang. Die Kälte hat nicht erst in diesem Winter Löcher in den Asphalt gerissen. Der Belag wird schon lange nicht mehr ausgebessert. Es lohnt sich nicht. Die Chaussee endet an der Berliner Mauer. Philip S. ist lange herumgefahren an den Rändern der Stadt, um einen Ort von solcher Verlassenheit zu finden. Langsam bilden sich die Konturen eines Wanderers ab, der den langen schwarzen Mantel trägt. Bei jedem Schritt blitzt das glänzende Futter auf. Um die Taille der Gürtel, der Kälbergurt. Der Wanderer läuft in der Mitte der Straße Richtung Osten, wo es am Horizont allmählich Tag wird. Die Kamera fährt ihm nicht nach.Sie verharrt auf der Stelle und folgt ihm mit einer einzigen Einstellung über den nassen Asphalt in eine neblige Ferne. Das erste Stück Wegs wird begleitet vom Beginn des langsamen Satzes aus Schuberts Streichquartett »Der Tod und das Mädchen«. Die das Thema des Todes umspielende erste Variation bestimmt die Atmosphäre des gesamten Films.
Die Musik setzt mit dem Vorspann ein, drängt unmerklich in den Vordergrund und bricht abrupt ab, so dass nur noch die Schritte auf dem Asphalt und fernes Hundegebell vernehmbar sind, ein Dorf ankündigend. Aber im Winter 1968 gibt es kein Dorf am Ende der Chaussee. Und dann hört man auch die Schritte nicht mehr. Nichts bewegt sich in der Natur, kein Ast im Wind, kein Vogel, der auffliegt, nur die tänzelnde dunkle Gestalt mit
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