1019 - Das Vampirfenster
Sie saß noch im Auto. Es war ein roter Punto. Kein Luxusschlitten, doch der Wagen tat seine Pflicht. Außerdem parkte sie selbst in einer guten Deckung, neben dem großen Bauwagen, der als Büro und Pausenraum für die Arbeiter diente.
Die Sicht auf die Kirche war gut. Besonders auf die Seite, auf die es ihr ankam. Selbst das dort aufgestellte Gerüst störte sie nicht, denn das Bauwerk wurde renoviert. Aus diesem Grunde war die Kirche auch für eine Weile geschlossen worden, obwohl die Innenarbeiten noch nicht in Angriff genommen worden waren.
Das interessierte sie nicht. Für sie war nur eines wichtig: das wunderbare, rätselhafte und hohe Spitzbogenfenster. Ein wirkliches Kunstwerk, ein kleines Wunder, ein herrliches Mosaik aus farbigem Bleiglas, das tagsüber bewundert wurde, doch erst gegen Mitternacht sein wahres Gesicht zeigte.
Gilian leckte über ihre Lippen. Sie wollte nicht mehr länger im Fahrzeug sitzenbleiben. Es wurde Zeit. Einige Minuten waren bereits vergangen. So öffnete sie die Tür und stieg hinein in die nächtliche Mailuft, die ziemlich kühl war, als hätte sich der Winter noch nicht verabschiedet.
Die Frau hielt ihr Gesicht gegen den Wind, der mit ihren dunkelblonden Haaren spielte, die kurz geschnitten waren, wobei das Deckhaar allerdings länger geblieben war und sie es wie eine breite Seite eines Scheitels quer über den Kopf gekämmt hatte.
Gilian Kyle war nie mit sich zufrieden. Sie empfand sich als durchschnittlich. Die Stirn zu hoch, die Nase zu lang, der Mund zu breit, Wangen, die Beulen oder Mulden zeigten – das alles war für sie das glatte Gegenteil von perfekt. Was sollte sie machen? Niemand konnte sich malen. Jeder sah so aus, wie ihn Gott geschaffen hatte, obwohl sie nicht an Gott glaubte, aber sie mochte den Spruch.
Gilian trug einen dünnen Mantel. Sie hatte sich darin eingehüllt und den Gürtel fest um die Taille geschnürt. Sie brauchte nicht weit zu laufen, doch jeder Schritt war angefüllt mit einer vibrierenden Spannung. Das Fenster war ihr Ziel, nur das Fenster, nicht die Kirche, die mochte sie nicht, sie war nur Mittel zum Zweck, und gleichzeitig war mit ihr etwas Ungeheuerliches geschehen, etwas, das wohl auf der Welt einmalig war, und von dem zum Glück nur sehr wenige Menschen wußten. Gilian war informiert, sie hatte auch die Botschaft verstanden, und sie fühlte sich als eine Auserwählte.
Manchmal ging sie davon aus, daß es kein Zufall, dafür aber Schicksal gewesen war, daß man ihr diese Entdeckung zugestanden hatte.
Die Kirche war nicht einmal sehr groß oder wuchtig. Dafür aber hoch, und entsprechend groß mußten auch die Fenster sein. Eine bestechende Architektur, die Gotik war hier wirklich zu bewundern.
Und natürlich dieses eine große Fenster an der kalten Nordseite, mehr im Schatten, weniger in der Sonne. Ein Fenster, das auch bei Tageslicht immer auf eine gewisse Art und Weise düster wirkte, so daß die Farben der einzelnen Scheiben nie richtig zu erkennen waren. Zumindest schmiegte es sich in eine Nische hinein, deren Seitenkanten schräg nach innen liefen. Das Fenster lag hoch. Selbst der beste Springer hätte es ohne Hilfsmittel nicht erreichen können, und deshalb war es besonders gut, daß es von diesem Baugerüst umschlossen war.
Davor blieb Gilian stehen.
Der Blick auf die Uhr.
Noch genau fünf Minuten.
Wieder perfekt, dachte Gilian. Dabei lächelte sie verkrampft. Die Feuchtigkeit auf ihren Handflächen ignorierte sie. Mit einer eckigen Bewegung wischte sie eine Haarsträhne aus der Stirn.
Den Weg in die Höhe kannte sie. Da sie ihn nicht zum erstenmal ging, wußte sie genau, wie sie zu treten hatte. Die Leitern waren breit genug und mit festen Sprossen versehen. In verschiedener Höhe angebrachte Querbalken gaben den Arbeitern die nötige Standfestigkeit, die auch Gilian Kyle schon ausprobiert hatte.
Vier Minuten vor der Tageswende begann sie mit dem Aufstieg.
Ihre Spannung war zwar vorhanden, allerdings hatte sie etwas nachgelassen. Sie war tatsächlich einer gewissen Freude auf das Kommende gewichen. Sie wußte, daß der Kontakt klappen würde.
Und sie würde IHM alles berichten, um dann zu erfahren, was er dazu meinte.
Die Weichen waren gestellt. Eigentlich konnte nichts mehr schiefgehen. Sie hoffte es zumindest und kletterte mit dieser Hoffnung immer höher. Um den idealen Platz zu erreichen, hatte sich Gilian das zweite Querbett ausgesucht. Es war leicht zu erreichen und auch an den Seiten durch zusammengeschraubte
Weitere Kostenlose Bücher