Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
worden, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Die Rechnung, ausgestellt auf den Namen des Vaters und mit einem hohen Rabatt versehen, befindet sich noch immer in einer Hängeregistratur, die er einmal für uns beide angelegt hatte. Die Kamera war kein Geschenk. Sie war eine Investition, von der die Eltern sich erhofften, dass sie sich auszahlen würde bei diesem Sohn, der nicht in die Familie passte.
Im Laden der Gebrüder Volpi hat er sich zwischen Minolta, Leica und Pentax wegen des Auslösergeräuschs für eine Nikon entschieden. Dennoch wählt er nicht das Modell, mit dem David Hemmings in Antonionis Film Blow up Vanessa Redgrave durch einen englischen Park verfolgt. Er wählt die einfachste Nikon ohne Automatik, denn er ist ein langsamer, ein statischer Fotograf, auf sorgfältige Vorbereitung bedacht; nichts bleibt dem Zufall überlassen. Im Fotoladen vergleicht er auf einer Liste die angegebenen Verschlusszeiten der Kamera mit eigenen Messungen. Vielleicht lag es an dieser Genauigkeit, dass der Verkäufer, der 1965 die Rechnung abgezeichnet hatte, seinen früherenKunden zehn Jahre später an einer Hauswand in Zürich wiedererkannte. Ehemalige Weggefährten hatten nach seinem Tod am neunten Mai 1975 ein Plakat im Gedenken an Philip S. angebracht. Der Verkäufer macht ein Foto und veröffentlicht das Bild in einer Zeitschrift. Wind und Regen haben das Gesicht noch nicht gänzlich abgelöst. Das Lachen in den Augen ist auf dem Foto zu erkennen, die breite Stirn, die Zahl achtundzwanzig, das Datum seines Todes und drei Wörter, die einmal einen Satz ergeben haben – »weiter«, »Sinn« und »Leben«.
II
Begraben ist er auf einem kleinen Friedhof am Rand von Zürich, wo es ins Weite hinausgeht, nach Forch oder Rüti. Der Weg zu seinem Grab führt an der Klinik vorbei, in der er 1947 zur Welt kam, geboren im Zeichen des Widders, von dem man sagt, dass er keine Vergangenheit kennt. Viele Jahre liegt er als einziger unter dem wuchtigen, mit einem Wappen verzierten Stein. Auf dem Grab eine junge Tanne. Verstreute Nadeln im Schnee. Heute ruht die Großmutter an seiner Seite. Sie hatte ihm manchmal etwas zugesteckt, nachdem er von zu Hause fortgegangen war, und er hatte ihren Familiennamen an den seinen angehängt. Ihr folgte Klari nach, die Hausangestellte und Kinderfrau, die er liebte. Die Großmutter und Klari haben ihn um fast zwanzig Jahre überlebt, die Eltern um mehr als dreißig. Geschäftsleute, die mit dem Bau von Verkehrsampeln reich geworden sind. Sein Elternhaus – eine Villa am Zürichsee.
Vom Bahnhof Tiefenbrunnen steigt das Ufer steil an bis zur Resedastraße. Seit sich unsere Wege getrennt haben, bin ich zum ersten Mal wieder in dieser Stadt. Ein leichter Regen fällt. Nach mehr als drei Jahrzehnten sitze ich gegenüber dem Haus auf einer niedrigen Vorgartenmauer und schaue auf dunkelrote geöffnete Fensterläden. Nur ein einziges Mal bin ich mit ihm die Treppe zu der Jugendstilvilla hinaufgestiegen. Der Besuch endete in der Eingangshalle. Jetzt sind Architekten eingezogen und zeigen die restaurierten Räume im Netz. In einem virtuellen Rundgang kann ich sehen, wie schön das Haus von innen ist, die runde Eingangshalle größer und weiter als in meiner Erinnerung. Mehrere im Halbkreis angeordnete Türen stehen offen und lassen mich in Räume schauen, die ich nie betreten habe. Ich weiß nichts von seiner Kindheit. Ich muss es mir vorstellen, wie er hier gelebt hat. Eine geschwungene Treppe führt in die oberen Stockwerke und zu seinem Zimmer. Von dort konnte er seinen täglichen Schulweg überblicken: das Seeufer entlang bis fast ins Zentrum, am Bellevueplatz links über die Quaibrücke auf die andere Seeseite. Er sei den langen Weg immer zu Fuß gegangen, hatte er einmal gesagt. Selbst im Winter kein Billett für die Tram, kein Fahrrad, keine Verwöhnung, keine Ausnahme von den puritanischen Regeln, die den Reichtum geschaffen haben. In seinem Elternhaus, auch das hatte er einmal gesagt, wurden keine Bücher gelesen, keine Bilder betrachtet, wurde keine Musik gehört. Es habe Gerechtigkeit geherrscht, aber Wünsche, Kinderwünsche seien nicht erfüllt worden. Stattdessen habe es Anschaffungen gegeben, wenn sie notwendig waren und etwas einbrachten.
Lustlos besucht er den Handelsschulzweig in der Kantonsschule im Stadtteil Enge. Er hatte sich dem Willen des Vaters gebeugt, der wenigstens den zweiten Sohn zum Nachfolger für das Unternehmen heranziehen wollte, wenn schon der erste ausgebrochen
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