Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Vergessenheit zu geraten. Hin und wieder hört man über frühere Freunde, dass er eine Landarztpraxis in einer von Berlin weit entfernten Gegend betreibt. Aber er meidet jeden Kontakt, und es ist ungewiss, ob er den Film jemals gesehen hat.
Die Darstellerin der Hausherrin hat den Plan, Schauspielerin zu werden, fallengelassen und schreibt später kluge und erfolgreiche Bücher über Liebe, über Paare, über Treue und darüber, wie die Liebe vergeht.
Wegen der fehlenden politischen Aussage des Films hatte der Tonmann mit wachsendem Widerwillen mitgearbeitet. Als Sohn reicher schweizerischer Eltern begegnete er anderen Söhnen reicher Schweizer mit Argwohn. Für ihn bleibt Philip S. ein bourgeoiser Perfektionist und Dandy, der sich nicht, wie er es für sich selbst in Anspruch nimmt, mit der Klasse der Arbeiter einig weiß.
Der Darsteller des Wanderers verlässt das graue Hausunglücklich, weil ihn seine Geliebte während der zeitraubenden und kräftezehrenden Dreharbeiten verlassen hat. Irgendwann kehrt er Deutschland den Rücken, geht in seine Heimat an der mexikanisch-amerikanischen Grenze zurück und kommt Jahre später wieder nach Berlin, um an der Hochschule der Künste zu unterrichten. Wenn er den Film in den vergangen Jahrzehnten hin und wieder sieht, sind es stets die Verse und das Gebet, aus denen seine vergessene Kindheit noch einmal aufsteigt.
Auch der Kameramann geht seiner Wege, er dreht zahllose Filme für Kino und Fernsehen und macht sich, wie man so sagt, einen Namen. Mit dem Licht war er wie ein Maler umgegangen. Er hatte Gesichter bleich und plastisch bei Kerzenschein aus der Dunkelheit auftauchen lassen oder die Konturen der Gestalten aufgelöst in der diesigen Transparenz der winterlichen Havellandschaft. Es war ein Film von spröder Schönheit geworden, den er sich heute manchmal in seinem Haus anschaut, wo er sich ein kleines Kino eingebaut hat. Er bedauert, dass er Philip S. damals aus den Augen verlor. Die Nachricht von den Umständen seines Todes kann er mit dem Menschen, mit dem er, wie er sagt, kongenial zusammengearbeitet hat, nicht in Einklang bringen. Er erinnert sich an seine schweren, fein gearbeiteten Schuhe und die Aufschläge seiner Anzughosen. Es passte nicht in die Zeit, der er sich als Kameramann im Parka zugehörig fühlte. Es passte auch nicht zu ihrer gemeinsamen Arbeit, wenn sie Stunde um Stunde in Schnee und Matsch am Havelufer und auf der Blankenfelder Chaussee Bildausschnitte festlegten und die Hallen des unwirtlichen Hauses mit so wenig Licht wie möglich ausleuchteten. Für den Kameramann aber war es etwas anderes als Perfektionismus. Er erlebte Philip S. bei den Dreharbeiten auf derSuche nach einer eigenen ästhetischen Wahrheit, mit der er im Jahr 1968 unter den Studenten der Akademie alleine stand.
Ich kann mich nicht erinnern, ob der Tonmann schlechte Arbeit geleistet hatte oder ob es zu den Vorstellungen von Philip S. gehörte, die Originalgeräusche des Films durch zusätzliche Akzente künstlerisch zu verstärken. Der Geräuschemacher kommt mit einer Zinkwanne voller Plastiktüten unterschiedlicher Stärke, mit Packpapier, Butterbrotpapier, Seidenpapier, mit Kämmen, Bürsten, Pinseln, Blechdosen, Holzstücken und Nägeln. Er lässt Reifen langsam über Kies rollen, eine Autotür zufallen und die harten, zischenden Schläge der sechsschwänzigen Peitsche auf Porzellan niedersausen. Er lässt Schritte auf Asphalt entstehen, wenn er ruckartig am Butterbrotpapier zerrt, er zieht einen Kamm oder eine Bürste über den Rand der Zinkwanne, erzeugt das Klicken der Dominosteine auf der Tischplatte und den Flügelschlag beim Auffliegen der Schwäne. Kurz vor der Aufnahme der letzten Geräusche stirbt der alte Mann. Philip S. holt sich das noch fehlende Rauschen der Bäume und das Geschrei der Krähen aus dem Archiv und legt den Ton an.
Dann verschwindet er für fünf Tage und Nächte im Schneideraum. Erst am Schneidetisch wird klar, dass in der scheinbar losen Bilderfolge nichts beliebig und nichts austauschbar ist. Was er geschaffen hat, sind formale Elemente, kunstvoll aneinandergefügt, ein Spiel mit Anlehnungen, Zitaten und Hinweisen auf andere Filme, vor allem aber auf Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais. Wenn ihm die Augen zufallen, legt er sich auf den Boden. Unter den am »Galgen« aufgehängten Filmschnipseln verschläft er seinen einundzwanzigsten Geburtstag. Nach der letztenKlebestelle trägt er den Film in einer Blechdose in ein Studentenkino.
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