Das verschwundene Kind
Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber sie war geradezu besessen von ihrem Kinderwunsch. Die Ursache ist leicht erklärt. Veronika ist … war ein absolut perfektionistischer Mensch. Alles, was sie tat, erledigte sie hundertprozentig. Sie verzieh keine Fehler, am wenigsten sich selbst. Höchstleistung war die Norm. Abitur mit einer glatten Eins. Medizinstudium mit besten Bewertungen. So lernte ich sie kennen. Ich bewunderte ihre Intelligenz und ihren Fleiß. Ich selbst war eher ein bequemer Student. Unsere Beziehung war schon damals durchaus konfliktbeladen, dennoch kamen wir nicht voneinander los. Kurz vor dem Studienabschluss wurde sie schwanger. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das Kind bekommen können, ich wäre dafür sogar zu Hause geblieben. Doch für Veronika gab es keine Diskussion. Sie entschloss sich zur Abtreibung und überstand den Eingriff zunächst ohne Probleme. Nach dem Studium arbeitete sie in einer Klinik. Sie litt unter der Hierarchie der ›Götter in Weiß‹ und fühlte sich als Frau trotz ihrer hervorragenden Leistungen nicht genug gewürdigt. Eines Tages zeigte sie den damaligen Chefarzt wegen eines vermeintlichen Kunstfehlers an. Ab dem Tag hatte sie das Gefühl, alle hätten sich gegen sie gewandt. Sie wechselte die Arbeitsstelle, doch sie glaubte, überall ein unsichtbares Netzwerk zu spüren, das sich gegen sie verschworen hatte. Sie nahm Aufputschmittel, um trotz der Schlaflosigkeit leistungsfähig zu bleiben, dazu abends immer mehr und stärkere Schlafmittel. Immer häufiger plagten sie heftige Migräneattacken und machten sie dienstunfähig. Ihr Ziel, eine anerkannte und erfolgreiche Ärztin zu sein, hatte sie verfehlt. Sie brach psychisch zusammen und gab auf. Danach wollte sie sich ins Privatleben zurückziehen, was finanziell kein Problem für uns war. Längst arbeitete ich in der Gemeinschaftspraxis, längst hatten meine Eltern uns das Haus überschrieben. Anfangs ging es Veronika besser. Sie begann, sich mit Chinesischer Medizin zu beschäftigen, und kritisierte die Schulmedizin und auch mich immer heftiger. Sie gab nun der Schulmedizin die Schuld an ihrem Versagen. Dazu kam, dass sich das erwünschte Kind nicht einstellen wollte. Sie steigerte sich in den Wahn hinein, dass ihr Leben nur mit einem Kind perfekt werden kann. Im Haus hat sie ein Kinderzimmer eingerichtet. Als das Kind nicht kam, hat sie das Zimmer mit Puppen ausgestattet und dafür ein Vermögen ausgegeben. Stundenlang hat sie sich manchmal dahin zurückgezogen. Ich denke, sie hat den Suizid begangen, weil sie ihr Leben ohne Kind für sinnlos hielt, und sie hat die Puppe als Zeichen des persönlichen Scheiterns ins Wasser geworfen.«
Die Tastatur klickerte. Niemand sagte etwas.
Dr. Kling erhob sich. »Mehr ist dazu wohl nicht zu sagen.«
Stephan und Heck warfen einander Blicke zu.
Heck begann: »Bitte setzen Sie sich noch einen Moment, Dr. Kling. Herr Stephan hatte Ihnen vorhin ja berichtet, dass er und Herr Hölzinger versucht haben, Ihre Frau von dem Sprung abzuhalten. Dabei hat Ihre Frau noch einige Dinge angesprochen. Hauptkommissar Stephan wird Ihnen das jetzt berichten.« Heck wies mit der Hand in seine Richtung.
Stephan schilderte detailreich und möglichst wortgenau, wie sich das Gespräch mit Veronika Kling abgespielt hatte. Dr. Kling saß vornübergebeugt da und schaute regungslos auf seine gefalteten Hände. Manchmal schloss er die Augen. Dann wieder presste er die Lippen zusammen.
Als Stephan geendet hatte, sagte Kling bestürzt: »Sie war es, die diese furchtbaren Morde begangen hat? Das ist ja kaum zu glauben. Aber daran sehen Sie, wie krank sie war, wie sehr sie das alles in den Wahnsinn getrieben hat.«
Stephan ergriff das Wort: »Ihre Frau behauptete, Sie hätten Hatice Ciftci als Leihmutter für Ihren letzten Embryo engagiert.«
»Davon ist kein Wort wahr!«, entrüstete sich Dr. Kling.
Stephan hob beschwichtigend die Hände und fuhr fort: »Nun, sagen wir mal, es hat sich etwas anders abgespielt, als Sie Ihrer Frau das glauben machen wollten. Hatice Ciftci war ungewollt schwanger geworden. Der Kindsvater hatte sich von ihr getrennt. In ihrer Not fragte sie bei Ihnen an, ob Sie vielleicht einen Arzt vermitteln könnten, der ohne Krankenkasse und ohne nach ihrer Identität zu fragen, eine Abtreibung vornehmen würde. Da kam Ihnen eine andere Idee. Sie hofften, endlich die Lösung für Ihre Frau gefunden zu haben. Sie kauften Hatice Ciftci das Kind ab und erzählten Ihrer
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