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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Pilot.« Doch unfähig, sich zu bremsen, hob und senkte er seinen Zylinder im Takt zu Mills Klavierspiel und steppte weiter.
    »Der Pilot ist Stepptänzer?«
    »Wieso nicht? He, Paul!«, rief er zu den Dachbalken hoch. »Komm runter. Deine Ma verlangt nach dir.«
    Dieser Befehl wurde Paul, dem Sohn der Spülerin, zugebrüllt, einem Jungen von etwa acht Jahren. Sein genaues Alter wusste niemand. Affenartig kam Paul an einem der Pfosten heruntergeklettert und zu uns herüber. »Hallo, Missus«, sagte er zu mir. Mehr sagte er nie.
    »Hast du die Wolken fertig?«, wollte Will wissen.
    Paul schüttelte den Kopf.
    »Na, dann mach sie fertig, bevor du in die Küche gehst.« Und zu mir sagte Will: »Kannst seiner Mom sagen, es dauert nicht lang.«
    Ich wollte schon fragen, was er denn mit den Wolken machte, wusste aber, dass ich mir die Frage sparen konnte.
    Inzwischen hatte sich Paul auf einen von den großen Steinbrocken gesetzt, die von Medea, das Musical noch übrig waren, und war dabei einzunicken. Das überraschte mich nicht. Will und Mill hatten Angst, ihn oben auf den Dachbalken seinen Mittagsschlaf machen zu lassen, wo er womöglich runterfiel.
    Mill klimperte auf den Tasten herum und sang:
    Wach auf! Wach auf! Du Schlafmütze!
    Will stimmte mit ein:
    Steh auf! Steh auf! Raus aus dem Bett!
    Frischauf! Frischauf! Die Sonn’ ist rot!
    Klaviertasten klimperten, Füße steppten, als wartete alle Welt bloß auf ein Duett.
    Im Gegensatz zu mir. Und so hüpf, hüpf, hüpfte ich davon.
    Ziemlich verschaukelt kam ich mir vor, während ich über den Kiesweg zur hinteren Küchentür trabte. Unterwegs sah ich ein Rotkehlchen, vielleicht ein Flüchtling aus der großen Garage. Mürrisch stand ich da und schaute ihm zu, wie es einen Wurm aus dem nassen Gras zog. Seine Brust war überhaupt nicht rot, sondern von einem staubigen Orange. Und »hüpfen« tat es schon gar nicht.
    Mit anderen Worten, es war überhaupt nicht wie in dem Lied. Allerdings ist das ja selten der Fall.

3. KAPITEL
    Statt eine Begegnung mit Ree-Jane Davidow zu riskieren, die ich zuletzt in der Hotelhalle gesehen hatte, ging ich über die Hintertreppe den Gang hinunter ins vordere Büro, von wo aus ich Axels Taxiunternehmen anrufen konnte.
    Es gab mal eine Dichterin namens Emily Dickinson, die, wie ich erfuhr, die Schöne von Amherst genannt wurde. Ree-Jane Davidow glaubte, sie sei die Schöne von Überall – von Spirit Lake, La Porte und Lake Noir. Von jedem Ort im Umkreis von ungefähr fünfundzwanzig Meilen war Ree-Jane die Schöne.
    Sie war sechzehn, beinahe siebzehn. Eigentlich hieß sie Regina Jane, beschloss aber eines Tages, dass sie es so ausgesprochen haben wollte wie bei einer berühmten französischen Schauspielerin, Réjane. Ständig bekniete sie mich, ich sollte es kehlig aussprechen, aber ich konnte oder wollte nicht. Heraus kam bei mir »Ree-Jane«, was sie natürlich in eine Stinkwut versetzte. Seither nenne ich sie so und ein Haufen andere Leute auch, die glauben, das sei ihr richtiger Name. Ich korrigiere sie nicht.
    Weil im hinteren Büro keiner war (obwohl ich Ree-Jane draußen in der Hotelhalle deklamieren hörte), rief ich bei Axel an und bat die Vermittlung, ein Taxi zum Hotel Paradise zu schicken. »Und sorg bitte dafür, dass Axel kommt, Wilma.« Axel kam nie.
    »Klar, Süße. Er ist gleich wieder da, muss bloß noch einen Fahrgast nach Lake Noir bringen.«
    Ich sagte ihr, dass ich unten an der ersten Auffahrt abgeholt werden wollte – das Hotel hat drei Auffahrten – und nicht vor dem Hotel.
    Während des Telefonats betrachtete ich eingehend das Regal mit Mrs Davidows Alkoholika. Es befand sich gleich neben dem großen Rolltop-Sekretär, wo sie gewöhnlich um fünf immer ihre Drinks zu sich nahm. Ich bemerkte die leere Flasche Myer’s Rum und überlegte, ob Lola die auch bemerken würde. Da stand auch eine Flasche mit einem sogenannten Pyrat, von dem Mrs Davidow gesagt hatte, wehe, sie erwische einen damit, der sei nämlich richtig gut und richtig teuer. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, ein bisschen von dem Pyrat in die Flasche mit dem Rum zu gießen (den ich für die Rumbas aufgebraucht hatte), fand das dann aber doch riskant. Womöglich hatte sie den Pyrat ja genau abgemessen.
    Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, stand ich unschlüssig da und überlegte, was wohl am ehesten nach Rum schmeckte. Ob ich etwas von dem Jim Beam in die Myer’s-Flasche schütten sollte? Aber Mrs Davidow würde merken, dass es komisch

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