Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    Wir redeten über das entführte Baby.
    Ich, Emma Graham, zwölf Jahre, mit einem Tablett unterm Arm bei meiner Großtante im Zimmer, sie, Aurora Paradise, die den dritten Stock nie verließ, es vermutlich nicht mal täte, wenn jemand » FEUER! « schrie.
    Der dritte Stock im Hotel Paradise besteht aus lediglich vier Räumen. Die sind Auroras Reich. Einer davon ist ihr Schlafzimmer, ich habe sie aber noch nie drin gesehen. Vielleicht geht sie gar nie ins Bett, vielleicht schläft sie in ihrem Sessel, oder vielleicht schläft sie gar nicht. Sie kann nämlich ganz schön dickköpfig sein.
    Aurora Paradise rührte mit dem Strohhalm im Rest von ihrem Rumba herum, einem Drink, den ich aus Rum und Banane kreiert hatte. Es war fünf Uhr nachmittags, die Cocktailstunde, eine Zeit, die in ebenso hoher Wertschätzung stand wie das sonntägliche Abendmahl mit Wein und Oblaten, bloß dass es sich hier um Rum, Gin und Whiskey handelte. Und ich war die Ober-Drinks-Fabriziererin.
    »Welches Baby?« Sie klickte mit dem Fingernagel an ihr fast leeres Glas. Damit gab sie mir zu verstehen, dass ihr ein weiterer Drink zustand, bevor sie weiterreden würde, aber davon wollte ich nichts wissen.
    »Du weißt, welches Baby. Das Slade-Baby, Baby Fay. Das vor zwanzig Jahren aus dem Belle Ruin entführt wurde.« Dann fügte ich schlau hinzu: »Als du etwa fünfzig warst.« Meine Großtante Aurora war gute neunzig. Damals wäre sie siebzig gewesen.
    Aurora machte die Augen zu, als würde sie über das entführte Baby nachdenken, was sie nicht tat. Wahrscheinlich dachte sie an sich selber, damals auf den Bällen im Belle Ruin.
    Ich schob mein kleines rundes Tablett vom einen Arm unter den anderen. Sie lud mich nie ein, mich zu setzen, obwohl ich die Hauptrumlieferantin war. Ihr Drink bestand zu einem Drittel aus Myer’s Rum.
    »Ich mache erst wieder einen Rumba, wenn du mir verrätst, warum du behauptet hast, Miss Isabel Barnett hätte gelogen, als sie sagte, sie hätte das Baby gesehen.«
    Sie zog kurz eine Schnute und zupfte ihre schwarzen Häkelhandschuhe mit den Perlenknöpfen zurecht. Aurora war oft wie zu einem Ball gekleidet, einem Ball vor fünfzig Jahren. Hinter ihr stand ihr Schrankkoffer, aus dem prächtige Abendkleider quollen. Es war ein aufrecht stehender Schrankkoffer mit Schubladen und allerlei, so einer, mit dem die Leute früher auf Ozeanreise gingen.
    Als sie sah, dass ich mich nicht rührte, sagte sie seufzend: »Isabel Barnett ist ungefähr so zuverlässig wie ein Feuerwerkskracher im Schnee. Die würde alles sagen, bloß um Aufmerksamkeit zu erregen. Du vergisst anscheinend, dass sie Klep-to-manin ist.« Aurora feixte, als fände sie dieses Handicap höchst amüsant.
    Es stimmte, dass Miss Isabel aus McCrorys Kramladen Kleinigkeiten mitgehen ließ, die sie danach aber immer bezahlte. Da Miss Isabel äußerst wohlbetucht war, kapierte keiner, wieso sie Lippenstifte für fünfundzwanzig Cent klaute. »Das hat doch mit dem Baby nichts zu tun.«
    »Ich sag ja bloß, Isabel Barnett hat einen Knall. Man kann sich auf nichts verlassen, was sie sagt oder tut. Die lebt schon so lang allein, dass sie sich wahrscheinlich mit der Wand unterhält. Ich weiß, dass sie einen Papagei hat, und wahrscheinlich sitzen sie die halbe Nacht beieinander und quasseln.« Steifarmig hielt sie mir ihr Glas hin. »Das ist über zwanzig Jahre her. Wie soll sie da noch wissen, wie das Kind aussah, selbst wenn es lauter Goldzähne gehabt hätte? Und jetzt bringst du mir bitte schön noch einen Rumba!«
    Mir war klar, dass ich sie nicht dazu kriegen würde, mehr zu sagen, und vielleicht hatte sie ja auch alles gesagt, was sie wusste. »Dann muss es aber was anderes sein. Von dem Rum ist bloß noch ein Fitzelchen übrig.«
    »Was Süßes eben. Mach doch einen von deinen Graf-von-Monte-Christo-in-Miami-Beach-Drinks.«
    Ich stellte das Glas auf mein Tablett und kam zu dem Schluss, dass durch weitere Erpressung mit Drinks nichts mehr zu holen war. Also ging ich, immer noch in Gedanken bei Miss Isabel Barnett. Das Problem war: Eine meiner Theorien über dieses Baby, das vor Jahren aus dem Belle Ruin verschwunden war, besagte, dass im Hotel überhaupt kein Baby gewesen war, denn niemand hatte tatsächlich eins gesehen, nicht mal Gloria Spiker, die Babysitterin. Ich vermutete, es war vielleicht krank geworden und gestorben, und Imogen und Morris Slade, die Eltern, wollten aus irgendeinem Grund nicht, dass jemand davon erfuhr. Es hatte wahrscheinlich

Weitere Kostenlose Bücher