Das Versteck der Anakonda
ein. Es war, als könnte er die schwüle Wärme dort unten bis hinauf ins Flugzeug spüren.
›Was, wenn es im Camp noch schlimmer ist?‹, dachte er und es wurde ihm ziemlich flau in der Magengegend. Auch das Flattern
der kleinen Maschine machte die Sache nicht gerade angenehmer.
Müde von dem langen Flug musste Paul wieder eingeschlafen sein. Denn das Nächste, was er sah, war eine Handvoll flacher Häuser
und dazwischen eine Grasfläche, die aussah wie ein schmales Fußballfeld und die sehr schnell näher kam. Als die Maschineaufsetzte, zuckte Joe neben ihm heftig zusammen und ließ dabei ein stöhnendes Schnarchen hören.
Fünf Minuten später kletterten sie aus dem Flugzeug. Am Ende der buckligen Urwald-Landepiste standen kaum ein Dutzend Menschen.
Pauls Blick strich schnell über sie hinweg. Wo war sein Vater? Enttäuscht stellte er fest, dass er nicht unter den Wartenden
war.
Joe dagegen lief zielstrebig auf einen stoppelbärtigen Mann in ungewaschener, stark verschwitzter Kleidung zu und schüttelte
ihm die Hand. Der Mann wies unbestimmt Richtung Wald. Und wenig später war von den beiden nichts mehr zu sehen.
»Pa-ul?!«
Der Junge drehte sich erschrocken um. Ein barfüßiger Mann, kaum einen halben Kopf größer als er selbst, mit Jeans-Shorts und
einem verblichenen roten T-Shirt stand vor ihm und lächelte ihn mit einer riesigen Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen an. Ein Indianer!
»Ja …?«
»Ich Estéban«, sagte er in einem eigenartigen Spanisch, »Doctor Ceñoto gesagt, Pa-ul abholen! Kommen mit!«
»Wer? Doctor Ceño…«, Paul schlug sich auf dieStirn. »Klar, mein Vater. Und er hat gesagt, ich soll mit Ihnen mitgeh… Ey, was, wo wollen Sie denn hin?«
Der Indianer hatte Pauls große Reisetasche gegriffen, sich ohne weitere Erklärungen umgedreht und war mit schnellen Schritten
davongelaufen.
Verdutzt sah ihm Paul hinterher.
»Moment, hallo, nicht so schnell, ich …« Paul raffte sein restliches Gepäck zusammen und rannte Estéban nach.
Ein paar Hundert Meter weiter blieb der leichtfüßige Indianer endlich stehen. Schwer atmend warf Paul Rucksack und Beutel
auf den Boden und sah sich um. Sie befanden sich oberhalb einer kleinen Bucht des Rio Napo. Paul konnte einen langen hölzernen
Steg, einen klapprigen Flusskutter und zwei schlanke indianische Motor-Einbäume erkennen.
›Das muss der Hafen sein!‹, dachte er und fragte sich, was Estéban wohl als Nächstes tun würde. Der Indianer drehte sich nur
einmal kurz zu ihm um und lief dann wortlos weiter.
»Mach dir mal meinetwegen keine Sorgen«, maulte Paul, während er sich erneut sein Gepäck schnappte. »Ich bin ja erst seit
24 Stunden auf den Beinen und fühle mich topfit. Wie wär’s mit einem Dschungel-Triathlon– von mir aus können wir auch zum Camp Napo schwimmen!«
Doch Paul musste nicht schwimmen. Stattdessen saß er fünf Minuten später mit mulmigem Gefühl am Bug eines Motor-Einbaums und
starrte auf den schmutzig braunen Fluss. Estéban, sein schweigsamer indianischer Begleiter, saß, die Hand am Steuerruder,
hinter ihm und regte sich nicht.
»Worauf warten wir?«
Ohne ein Wort wies der Indianer mit seinem Kopf zurück über die Schulter. Paul blinzelte unter vorgehaltener Hand hinüber,
sah aber nichts als eine Gruppe hoher Bäume hinter seinem Begleiter aufragen.
Doch halt, gerade als er sich wieder abwenden wollte, bemerkte er in den Augenwinkeln eine Bewegung. Was immer da auf sie
zukam, es sah merkwürdig aus. Die Gestalt ruckte seltsam auf und ab, während sie zugleich hin und her zu schaukeln schien.
Dann endlich verstand Paul, was er da sah. Ein ebenfalls mit einer kurzen Hose bekleideter Indianer kam auf sie zu. Er trug
einen offensichtlich schweren und sperrigen Benzinkanister mit beiden Händen ruckweise vor sich her. Die schaukelnde Bewegung
ging von einem Fellbündel auf seinenSchultern aus, das bei jedem Ruck ins Schwanken geriet.
Als die seltsame Erscheinung nur noch etwa dreißig Meter entfernt war und einen Moment stehen blieb, fiel bei Paul der Groschen.
Das Fellbündel war ein kleines Äffchen und der Indianer, der ihn jetzt über das ganze Gesicht anstrahlte, war ein Junge etwa
in seinem Alter.
»Juanito!« Estéban hatte seine Sprache wiedergefunden und zeigte zufrieden nickend zu dem Jungen. »Sohn von Estéban.«
Der Alte machte keinerlei Anstalten, dem schmächtigen Jungen mit dem Benzinkanister zu helfen. Also sprang Paul aus dem
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