Das Versteck der Anakonda
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Reise in den Dschungel
»Na, so was! Sieht so aus, als hätten wir zwei das gleiche Ziel. Was?«
Paul schreckte auf und blinzelte den jungen Mann, der ihn gerade geweckt hatte, aus müden Augen an.
›Nicht der schon wieder!‹
Schon vor über 20 Stunden, beim Check-in auf dem Frankfurter Flughafen, hatte Paul den großen Blonden gesehen. Auch in Madrid und später in
Quito waren sie in die gleiche Maschine gestiegen.
Der Typ war nicht nur sonnenstudiobraun, er trug auch einen Kakianzug, Trekkingstiefel und einen über dem rechten Ohr aufgebundenen
Safarihut – alles nagelneu und perfekt gestylt.
›Wie ein Fotomodell aus dem Outdoor-Katalog!‹, dachte Paul und verkniff sich ein Grinsen.
»Wo fliegste denn hin, Kleiner?«
»Nach Puerto Misahuallì.«
»Ehrlich? Ich auch! Und dann? Wirst wohl kaum ganz alleine im Urwald spazieren gehen, oder?«
Er schlug Paul auf die Schulter und lachte laut.
Paul schwieg. Als der Blonde aber zuerst seinen grellroten Rucksack und dann sich selbst in den Sitz neben ihm fallen ließ,
seufzte er. Den Typen würde er für den Rest des Fluges nicht mehr loswerden.
Als er gerade antworten wollte, sprang der Propeller der klapprigen Cesna an. Wenig später lag das Tal von Baños hinter ihnen
und sie nahmen Kurs auf den Dschungel Ecuadors.
»Meine Mama macht eine Mutter-Kind-Kur mit meiner kleinen Schwester. Ich besuche so lange meinen Vater. Er arbeitet für ein
Jahr in Ecuador.«
»Als Öl-Ingenieur, was?«
»Nein, als Schlangenforscher.«
Der junge Mann zuckte zusammen, als hätte er einen elektrischen Weidezaun angefasst.
»Ist nicht wahr!« Sekunden später hatte er einen zerknitterten Briefumschlag aus seiner Umhängetasche gezerrt und hielt ihn
Paul unter die Nase. »Zernott! Du bist der Sohn von Dr. Michael Zernott – oder?«
Paul war verblüfft.
»Ja. Aber woher …?«
»… ich das weiß? Ich bin auf dem Weg zu deinem Vater ins Camp Napo. Ich hab ein Empfehlungsschreibenvon meinem Onkel. Er ist im Vorstand der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.«
»Mein Vater arbeitet für das Forschungsinstitut Senckenberg!«
»Eben. Und deswegen wird er mir helfen!«
Paul war jetzt wirklich neugierig geworden. Wobei sollte sein Vater diesem überdrehten Typen wohl helfen?
Als der Blonde sah, dass Paul ganz gespannt die Auflösung des Rätsels erwartete, warf er sich stolz in die Brust.
»Ich werde die Zehn-Meter-Anakonda finden!«
Paul verdrehte die Augen.
»Der Roosevelt-Preis?«
Sein Nachbar nickte anerkennend: »So, den Preis kennst du also?«
O ja, Paul, dessen erstes Schmusetier eine zwei Meter lange Boaconstrictor gewesen war, kannte sich beim Thema Schlangen aus.
Sein Vater hatte einmalvon den 50 000 Dollar erzählt, die seit 1912 auf denjenigen warteten, der den unwiderleglichen Beweis einer Zehn-Meter-Schlange erbringen
würde.
Der Blonde unterbrach Pauls Gedanken.
»Das Geld interessiert mich nicht, mein alter Herr hat mehr als genug davon. Aber«, flüsterte er jetzt verschwörerisch und
mit funkelnden Augen, »wenn ich die Roosevelt-Schlange gefunden habe, werden alle sehen, was ich draufhabe!« Und ein wenig
kleinlauter fügte er hinzu: »Auch mein Vater!«
Paul schüttelte skeptisch den Kopf.
»Papa sagt, die Zehn-Meter-Schlange sei Spinnerei. Und wenn, dann ist es vermutlich keine Anakonda. Die längste Schlange der
Welt ist der Netzpython. Jedenfalls gibt es unter ihnen viel häufiger besonders lange Exemplare. Aber er lebt in Asien. Warum
sind Sie nicht dahin geflogen?«
Der junge Mann lächelte gönnerhaft.
»Das lass mal meine Sorge sein. Keine Tagesreise vom Camp Napo entfernt gibt es eine kleine Insel. Und auf der lebt eine Zehneinhalb-Meter-Anakonda.
Weiß ich aus zuverlässiger Quelle!«
Paul sah den Blonden erwartungsvoll an, doch der sah nicht so aus, als wollte er diese Quelle preisgeben, und Paul hatte auch
keine Lust nachzufragen.
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Oh, entschuldige, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Ich bin Johannes Cornelius Portländer der II.– aber nenn mich
wie meine Freunde einfach Joe.«
»Ich heiße Paul.«
»Wie alt bist du?«
»Zehn. Im Oktober werde ich elf!«
Während sich Joe nun endlich häuslich neben ihm einrichtete, drehte sich Paul zum Fenster und versuchte, durch die vielen
Wolkenfetzen hindurch einen Blick auf den immer dichter werdenden Urwald zu werfen. Ihm fielen seine Besuche im Frankfurter
Tropenhaus
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