Der Kulturinfarkt
Vorwort
Deutschlands Kulturbetrieb steht vor dem Infarkt. Von allem gibt es zu viel und nahezu überall das Gleiche. Wer kann in dieser Flut das Wichtige noch wahrnehmen, annehmen und genießen? Und was Kultur alles leisten soll, ohne dass es ihr gegeben ist: die Demokratisierung befördern, die Fremden integrieren, die Wirtlichkeit der Städte steigern, die geistige Einheit der Nation herstellen, die Neonazis vertreiben, den Frieden sichern, wirtschaftliches Wachstum generieren, sozialen Ausgleich schaffen.
Was die Gesellschaft gesund machen sollte, liegt selbst darnieder. Dem Patienten schwindelt, denn er hängt an einem Tropf, der »öffentlichen Förderung«, und daraus tröpfelt es – gefühlt – immer weniger. Die Krankheitssymptome nehmen zu, aber alle drücken sich um die Diagnose. Das Trostlied vom Kulturstaat will nicht wirken.
Eurokrise, Globalisierung, Demografie, Migration, Digitalisierung – ungeheuer sind die Fliehkräfte, die aus den gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen. Kirchen werden geschlossen, weil es an Gläubigen mangelt, Schulen aufgelöst, weil weniger Nachwuchs kommt, Krankenhäuser werden von Heilanstalten zu Reparaturgaragen umgewandelt, aus denen man die Patienten so rasch wie möglich wieder nach Hause schickt, sogar Atomkraftwerke werden abgestellt, weil die Gesellschaft andere Energiequellen wünscht – nur im Bereich von Kunst und Kultur soll alles so bleiben, wie man es, ausgehend vom Geheimrat Goethe, überzogen mit bürgerlicher Gesellschaftspädagogik, instrumentalisiert von den Sinnspendern der siebziger Jahre, eingerichtet hat?
Von allem zu viel: Sozialdemokratisch erfunden, setzt die »neue Kulturpolitik« der letzten Jahrzehnte doch auf das Theorem, dass jedes Angebot, einmal geschaffen, seine Konsumenten erzeuge. Diese Angebotsfixierung hat die Institutionen vermehrt und die Fördertöpfe, nicht aber die Konsumenten. Wenn es denn eine ästhetische Durchdringung der Gesellschaft gibt, dann verdanken wir sie dem kommerziellen Sektor.
Überall das Gleiche: Der Vormarsch der geförderten Kultur, der Jurys, Experten und Kulturmanager produziert nicht Innovation, sondern bürokratisch unterlegte Konformität – Übereinstimmung mit Fördermatrizen, Projektformaten und Kriterien. Natürlich gibt es noch große Kunst. Doch wer findet sie in der gleichwertigen, ja gleichgültigen Masse gut gemeinter und gut geförderter Halbfabrikate? Wo ist die Diskussion über die Bedingungen des Lebens, ausgelöst von Kunst?
Eine Polemik: Ja, wir holen zur Kritik aus. Wir kritisieren selten Personen, aber immer das System, das einseitig auf Produktion fixiert ist und den Einzelnen bestenfalls als kulturell schadhaftes, mithin zu reparierendes Individuum betrachtet. Wogegen Letzteres sich natürlich mit gutem Recht wehrt. Wir lesen Fakten, Statistiken und fügen die Schlüsse aneinander, die andere schon vor uns gezogen haben, die aber – auch hier das Zuviel! – niemand hören will.
Wir ziehen zu Felde gegen das Schisma, das moderne Kulturpolitik in die Gesellschaft bringt: dass es gute und schlechte Kultur gebe, Kulturbürger und Kulturferne. Wir legen Einspruch ein gegen den wachsenden Einfluss des Staates auf die Kultur. Wir beklagen die Nähe zu Staat, Macht und Geld, die im Kulturbetrieb so modisch geworden ist. Wir bekunden Mühe mit der Verantwortungslosigkeit des institutionellen Kulturbetriebs. Uns passt seine Abnabelung von den Veränderungen nicht, seine Wagenburgmentalität. Und uns passt noch weniger, wie Politik sich in Sonntagsreden übt, diese montags aber vergessen hat. Zuletzt fehlt es uns an Debatten in der Kulturszene. Dort gilt das allgemeine Schonrecht: Niemand kritisiert niemanden, alle haben dasselbe Existenzrecht und denselben Anspruch auf Förderung. Die Großen brauchen die Kleinen als Feigenblatt, die Kleinen lieben den Windschatten.
Wir belassen es nicht bei einer Polemik. Wir möchten den Patienten therapieren. Wir machen uns Gedanken über eine Zukunft, über neue Ansätze und neue Paradigmen: Abschied vom autoritären Werturteil zum Beispiel, Rückbau der Institutionen, Investition in das unabhängige Schaffen, Wechsel in die digitale Distribution, Nachfrageorientierung vor allem durch höhere Wertschöpfung am Konsumentenmarkt, Aufbau einer wertschöpfenden Kulturwirtschaft. Wir entwickeln keine kompakte Vision. Visionen, die sich mit der Macht der Politik verbinden, werden rasch zu Zwangsjacken, das wissen wir gut genug. Deshalb bleibt unser
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