Das verwunschene Haus
und so wagt er es nicht.
Am 13. Juli 1947 wird in Besançon der Prozeß gegen Lucien Blanchet eröffnet. Der Vagabund macht große Augen, als er in den Gerichtssaal geführt wird. So viele Uniformen auf einmal hat er noch nie gesehen: all diese roten und schwarzen Roben...
Fügsam antwortet er auf die Fragen des Vorsitzenden. Mehrere Zeugen werden gehört, und Adelaide Mercier, die im Rollstuhl erscheint, erklärt, ihn nicht wiederzuerkennen. Doch sie hatte ja bereits ausgesagt, daß sie den Angreifer nicht richtig gesehen hatte.
Der Psychiater meint, der Angeklagte sei zwar geistig minderbemittelt, doch voll verantwortlich für seine Taten.
Lucien Blanchet, der auf der Anklagebank sitzt, schüttelt von Zeit zu Zeit den Kopf und lächelt ohne erkennbaren Grund. Nachdem der Staatsanwalt eine wortreiche Anklagerede gehalten hat, wendet er sich zum Schluß an den Beschuldigten: »Blanchet, Sie haben Glück, denn Ihr Opfer hat trotz der Schläge, die Sie Madame Mercier versetzt haben, überlebt. Dafür können Sie ihm dankbar sein! Auf die Weise retten Sie nämlich Ihren Kopf! Da es sich hier also nicht um Mord handelt, fordere ich nicht die Todesstrafe, sondern lebenslange Gefängnisstrafe.«
Lucien scheint damit einverstanden zu sein. Er sieht aus, als glaube er tatsächlich, noch einmal Glück gehabt zu haben. Und genauso verhält er sich auch, als der Schuldspruch dann verkündet wird: lebenslanges Gefängnis.
Er lächelt noch einmal in den Saal, eines von jenen zahnlosen Lächeln, das sein Gesicht in zwei Hälften teilt, und dann wird er von den Gendarmen hinausgeführt.
Im Gefängnis von Besançon erweist sich Lucien Blanchet als geradezu mustergültiger Häftling. Er ist sanft wie ein Lamm, doch seine Mitgefangenen versuchen nicht, aus seiner Schwäche Gewinn zu ziehen, denn er ist einfach zu nett und zu zuvorkommend.
Zwei Jahre vergehen. Im September 1949 bittet er einen seiner Zellengenossen: »Sag mal, könntest du für mich einen Brief schreiben? Ich selbst kann nämlich nicht schreiben.«
»Klar, mach ich. An wen?«
»An den Richter. Du mußt ihm sagen, daß ich unschuldig bin. Denn ich habe jetzt genug davon, hier zu sein. Ich will frei sein, verstehst du? Deshalb werden sie mich gehen lassen, und ich verspreche dir, daß ich dir Cidre mitbringe, wenn ich dich besuchen komme.«
Sein Zellengenosse versucht, ein etwas trauriges Lächeln zu verbergen, während er unter Luciens Diktat zu schreiben beginnt. Ja, Lucien ist wirklich unschuldig, ein armes, unschuldiges Individuum.
Der Brief landet auf dem Schreibtisch des Ermittlungsrichters, Monsieur Chevalier, doch nachdem dieser ihn gelesen hat, legt er ihn unter der Rubrik »erledigt« ab. Um sein Gewissen zu beruhigen, hat er sich zuvor noch einmal das Geständnis vorgenommen, das der Verurteilte mit seinem Daumenabdruck unterzeichnet hatte. Alles ist vollkommen in Ordnung, und es gibt nicht den geringsten Grund, den Fall wieder aufzurollen. Außerdem kommt es häufig vor, daß Häftlinge sich während der ersten Gefängnisjahre plötzlich für unschuldig erklären. Um in der Sache etwas zu unternehmen, bedürfte es neuer Fakten.
Und es gibt keine neuen Fakten, zumindest nicht für die Dauer von weiteren zwei Jahren. Denn im Jahre 1951 erhält der Untersuchungsrichter ein seltsames Schreiben. Es stammt aus dem Gefängnis von Chartres. Darin berichtet der Zellengenosse eines gewissen Jérôme Lelong, was dieser ihm anvertraut habe. Der zu sechs Jahren verurteilte Lelong soll sich damit gebrüstet haben, 1946 in Clergy eine alte Frau niedergeschlagen zu haben.
Obwohl einige Zeit vergangen ist, hat Untersuchungsrichter Chevalier jenen Brief aus dem Gefängnis von Besançon nicht vergessen. Er beschließt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Rasch entdeckt er zwei wichtige Fakten. Jérôme Lelong ist im Oktober 1946 wegen einfachen Diebstahls verhaftet worden und zwar in Besançon, also ganz in der Nähe von Clergy. Die dortigen Vorfälle lagen zu dem Zeitpunkt zwei Wochen zurück. Darüber hinaus wurde ihm die Strafe, die er momentan verbüßt, auferlegt, weil er eine alte Frau überfallen hatte, die allein auf einem einsamen Bauernhof lebte.
Monsieur Chevalier läßt Jérôme Lelong in sein Büro bringen. Trotz seiner fünfundzwanzig Jahre ist Lelong bereits ein mit allen Wassern gewaschener Ganove. Der Untersuchungsrichter hat zuviel Erfahrung im Umgang mit Straftätern, um nicht sofort zu erkennen, daß er hier eine harte Nuß zu knacken hat.
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