Das verwunschene Haus
Andererseits besitzen manche von diesen einen gewissen Sinn für Humor, und das scheint bei Lelong der Fall zu sein.
Schulterzuckend erklärt der junge Gauner: »Ja, Herr Richter, ich habe im Gefängnis zu sehr das Maul aufgerissen. Aber ich bereue es nicht wirklich, denn es gefällt mir nicht, daß so ein armer Schlucker an meiner Stelle zu lebenslänglich verdonnert wurde. Also einverstanden, ich gebe zu, daß ich das damals war in Clergy.«
Dennoch bleibt der Untersuchungsrichter auf der Hut. Falls sich die Unschuld von Lucien Blanchet tatsächlich erweisen sollte, so würde das bedeuten, daß er ein falsches Geständnis abgelegt hatte. Er hat also allen Grund, dem Geständnis von Jérôme Lelong ebenfalls zu mißtrauen.
Andererseits weiß er ein Mittel, um die Wahrheit herauszufinden, ein unfehlbares Mittel...
»Gut«, erklärt er gegenüber Jérôme Lelong, »ich werde eine Rekonstruktion des Tathergangs vor Ort anordnen. Dann werden wir ja sehen...«
Fünf Jahre nach dem schrecklichen Überfall ist Adelaide Mercier noch immer am Leben. Ein wenig ängstlich empfängt sie den Untersuchungsrichter, die Polizeibeamten und den mit Handschellen gefesselten Gefangenen auf ihrem Bauernhof.
Jérôme Lelong gibt sich gelassen und selbstsicher. Er stößt die Haustür auf und sagt: »Die Tür war nicht verschlossen. Ich ging also hinein, versteckte mich im Wohnraum und wartete. Als die alte Dame auftauchte, stürzte ich mich auf sie und versetzte ihr ein paar Schläge... oh, nur ein paar ganz leichte Schläge, denn ich wollte sie schließlich nicht umbringen. Trotzdem begann sie laut zu schreien. Immer wieder rief sie: >Jesus, Maria und Josef!< und bat mich, aufzuhören.«
Der Untersuchungsrichter Chevalier gibt nicht viel auf solche Einzelheiten, die man damals überall in der Presse hatte lesen können. Wenn der Mann ein pathologischer Lügner ist, so wird er sich noch genau daran erinnert haben.
»Und was haben Sie danach getan?«
»Ein Hund fing an zu bellen. Ich bekam Angst. Aber ich wollte trotzdem irgend etwas stehlen. Deshalb ging ich in die Küche und nahm einen großen Laib Brot mit.«
»Dann gehen Sie jetzt in die Küche so wie damals!«
Ohne zu zögern öffnet Jérôme Lelong die Tür, die sich auf der linken Seite des Wohnraums befindet und bleibt wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Dahinter ist nicht die Küche, sondern ein kleiner Salon.
Mit ironischem Lächeln öffnet der Untersuchungsrichter eine angrenzende Tür.
»Sie sehen ja wohl selbst, daß Sie uns hier Gott weiß was erzählen. Die Küche ist dort...«
Und tatsächlich erspäht man durch diese Tür eine neueingerichtete Küche.
Doch der Gefangene schüttelt energisch den Kopf.
»Nein, nein, so sehr kann ich mich nicht irren! Die Küche war auf der anderen Seite. Hören Sie, da stand ein Herd, und obenauf lag das Brot. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre...«
Untersuchungsrichter Chevalier schüttelt den Kopf. Jetzt kennt er die Wahrheit. Nach dem Überfall wurde das Haus von Madame Mercier umgebaut. Die ehemalige Küche wurde verlegt und der Raum in einen kleinen Salon verwandelt. Dies konnte niemand wissen. Jérôme Lelong ist also wirklich der Täter, und Lucien Blanchet ist unschuldig.
Der Prozeß gegen Jérôme Lelong beginnt am 30. April 1951.
Lucien Blanchet, der natürlich sofort freigelassen wurde, nimmt ebenfalls daran teil. Er lächelt glückselig. Zum ersten Mal hat er keine Angst vor den Roben der Richter und Anwälte und vor den Uniformen der Polizei.
Man hat ihm gesagt, er könne jetzt wieder leben wie zuvor, und es sei nicht weiter schlimm, wenn er nur fünfzig Centimes in der Tasche habe. In Zukunft werden die Gendarmen ihn in Ruhe lassen, das haben sie ihm geschworen!
Am Ende des Gerichtsverfahrens wird Jérôme Lelong zu neun Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Das vergleichsweise milde Strafmaß ist in erster Linie der Tatsache zu verdanken, daß er sich im nachhinein doch noch spontan zu einem Geständnis entschlossen hatte.
Was Lucien Blanchet betrifft, so hat dieser sein Dasein als vagabundierender Tagelöhner in der Gegend von Besançon wiederaufgenommen. Zuvor, und gleich nach Ende des Prozesses, hat er jedoch an Adelaide Mercier eine kleine Botschaft geschickt, die ein Anwalt für ihn abgefaßt hatte:
Madame,
ich danke Ihnen, daß Sie nicht tot sind. Denn wenn Sie tot wären, so wäre ich selbst jetzt sicher ebenfalls tot.
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