Das vierte Opfer - Roman
den frühen Morgenstunden eingefunden hatte. Schwer zu sagen, was der wahre Grund seiner Unruhe und Rastlosigkeit war, wenn er in dem wackligen Doppelbett lag und sich hin- und herwälzte, während das Morgengrauen immer stärker hereindrang... schwer zu sagen.
Die Ferien dauerten jetzt bereits drei Wochen, ziemlich lange für seine Verhältnisse, aber trotzdem nicht ungewöhnlich lange. Und zumindest während der letzten Woche hatte sich sein Tagesrhythmus kontinuierlich verändert. In vier Tagen würde es an der Zeit sein, wieder ins Büro zu kommen, und er hatte nicht das Gefühl, daß er es auf rüstigen Beinen tun würde.
Und das, obwohl er eigentlich kaum etwas anderes getan hatte, als sich auszuruhen. Am Strand gelegen und gelesen. Im Café in s’Greijvin gesessen oder näher dran in Hellensraut. Den unendlichen Strand rauf und runter spaziert.
Die erste Woche mit Erich war ein Fehler gewesen, das hatten beide bereits nach dem ersten Tag eingesehen, aber das Arrangement ließ sich nicht so leicht über den Haufen werfen. Der Urlaub war nur unter diesen Voraussetzungen bewilligt worden: daß der Vater die Verantwortung für den Sohn übernahm und daß dieser hier an der Küste blieb. Der Sohn hatte immer noch zehn Monate seiner Strafe abzusitzen, und sein letzter Aufenthalt in der Freiheit hatte so einiges zu wünschen übrig gelassen.
Van Veeteren blickte aufs Meer hinaus. Das lag so still und unbegreiflich da, wie es das die ganze letzte Woche getan hatte. Als könnte nichts es wirklich erschüttern, nicht einmal der Wind. Die Wellen, die am Strand eines natürlichen Todes starben, schienen schon lange Leben und Hoffnung hinter sich gelassen zu haben.
Das hier ist nicht mein Meer, dachte Van Veeteren.
In den letzten Arbeitswochen im Juli hatte er auf die Tage mit Erich förmlich gewartet. Als sie da waren, wartete er, daß sie vorbeigehen würden, damit er wieder seine Ruhe hatte. Und nachdem er jetzt zwölf Tage und Nächte in absoluter Einsamkeit
verbracht hatte, sehnte er sich danach, wieder mit seiner Arbeit anfangen zu können.
Oder war es vielleicht doch nicht so einfach? War es einfach nur eine beschönigende Umschreibung für das eigentliche Problem – die Frage nämlich, ob es einen Punkt gibt, ab dem man sich nicht länger nach etwas sehnt, sondern ab dem man nur noch von etwas fort will. Weg. Sich danach sehnt, etwas abzuschließen und aufzubrechen, aber nicht danach, etwas neu anzufangen? Wie eine Reise, deren Verlockung im gleichen Takt abnimmt, je weiter man sich vom Ausgangspunkt entfernt, die immer bitterer wird, je näher man dem Ziel kommt...
Weg, dachte er. Beenden. Begraben.
Das ist es, was man den Weg nach unten nennt. Und es gibt immer ein anderes Meer.
Er seufzte und zog sich den Pullover aus. Band ihn sich um die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und ihm war klar, daß der Rückweg länger dauern würde... Es war eigentlich gar nicht schlecht, am Abend ein paar Stunden für sich allein zu haben. Das Haus mußte saubergemacht werden, der Kühlschrank geleert, das Telefon abgestellt. Er wollte am nächsten Morgen früh los. Es gab keinen Grund, den Aufbruch unnötig zu verzögern.
Er trat gegen eine liegengelassene Plastikflasche im Sand.
Morgen beginnt der Herbst, dachte er.
Er hörte das Telefon schon am Gartentor. Automatisch verlangsamte er seine Bewegungen, zögerte mit dem nächsten Schritt und suchte nach den Schlüsseln in der Hoffnung, daß es aufhören würde zu klingeln, bevor er ins Haus kam. Vergeblich. Die Töne durchschnitten hartnäckig die Dämmerung und die Stille. Er nahm den Hörer auf.
»Ja?«
»Van Veeteren?«
»Kommt darauf an.«
»Haha... Hier ist Hiller. Wie geht’s so?«
Van Veeteren unterdrückte den Impuls, sofort wieder aufzulegen.
»Ausgezeichnet, danke. Aber ich bin davon ausgegangen, daß mein Urlaub erst am Montag zu Ende ist...«
»Ganz genau! Ich hab mir gedacht, du könntest noch ein paar Tage zusätzlich gebrauchen.«
Van Veeteren antwortete nicht.
»Würdest du gern noch ein bißchen an der Küste bleiben, wenn du die Möglichkeit hättest?«
»...«
»Noch eine Woche oder so? Hallo!?«
»Wenn der Herr Polizeipräsident zur Sache kommen könnte«, sagte Van Veeteren.
Hiller bekam einen simulierten Hustenanfall, und Van Veeteren seufzte.
»Ja, hrrm, da ist so eine kleine Sache oben in Kaalbringen... das dürfte nicht mehr als vierzig, fünfzig Kilometer von deinem Haus
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