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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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In der Zwischenzeit hatte er ihr noch ein paar andere Dinge beigebracht... LSD, Morphium, Sachen, die er selbst nie nahm, und er hat ihr auch beigebracht, wie eine junge Frau am einfachsten und effektivsten Geld verdienen kann. Vielleicht ernährte sie ihn, vielleicht war er ihr Zuhälter ... ich weiß es nicht, wir haben nie darüber gesprochen. Vielleicht war es damals auch noch nicht soweit gekommen.
    Sie blieb achtzehn Monate allein in Aarlach. Hatte keine Wohnung, sondern hauste bei verschiedenen Männern... tja, ein paarmal kam sie auch aus verschiedenen Gründen ins Krankenhaus und in Therapieheime. War auf Entzug, lief davon und irrte herum...«
    Er schluckte, sie konnte hören, wie er seinen Atem zurückhielt.
    »Für kurze Zeit wohnte sie auch bei uns zu Hause, fuhr dann aber wieder zurück. Eine Weile hielt sie sich über Wasser, aber bald begann alles wieder von vorn. Schließlich gelangte sie in irgendeine Art Sekte, sie hielt sich von Drogen fern, wurde aber von anderem hinuntergezogen. Es schien, als könne sie nicht anders oder als schirme sie sich gegen das normale Leben ab – vielleicht genügte es ihr auch einfach nicht mehr, das Alltägliche, ich weiß es nicht. Nach zwei Jahren war sie dann doch damit einverstanden, Aarlach zu verlassen und wieder bei uns zu wohnen, aber jetzt war es mit der Freude vorbei... Brigitte ... Gitte. Sie war vierundzwanzig Jahre. Erst vierundzwanzig war sie, aber eigentlich war sie älter als meine Frau und ich. Sie wußte, doch, ich glaube, sie wußte selbst, daß sie ihr Leben bereits verwirkt hatte ... sie konnte sich immer noch weizenblonde Zöpfe flechten, aber ihr Leben hatte sie schon hinter sich. Sie wußte es, aber wir nicht. Eigentlich weiß ich es nicht ... vielleicht gab es noch ein Fünkchen Hoffnung, eine Möglichkeit, alles noch einmal hinzubiegen. Auf jeden
Fall bildeten wir uns das ein, wir mußten es uns einbilden, diese verzweifelte Illusion vergeblicher Hoffnung. Ich glaube schon, daß wir einfach daran glauben mußten. Bevor wir lernen, worum es faktisch geht, ist es doch genau das, was wir tun. So läuft dieses verfluchte Leben doch ab. Wir klammern uns an etwas fest, das gerade zufällig zur Hand ist. Ganz egal, was...«
    Er schwieg. Sie öffnete die Augen und sah, wie die Zigarettenglut sein Gesicht erhellte. Zog die Decken dichter um sich. Sie spürte die starke Hoffnungslosigkeit, die die ganze Zeit von ihm ausging. Die wie in Wellen kam und sich für einen Augenblick in der Dunkelheit zu verdichten schien, sie fest und undurchdringlich werden ließ, selbst für Worte und Gedanken.
    Ich verstehe, versuchte sie dennoch zu sagen, aber die Worte kamen nie heraus. Sie blieben in ihr stecken. Erfroren und sinnlos.
    »Ich habe Maurice Rühme im gleichen Herbst aufgesucht«, fuhr er nach dem Schweigen fort. »An einem Tag dieser wenigen Monate, die wir sie bei uns hatten, fuhr ich dorthin. Besuchte ihn in der gleichen verflucht gepflegten Wohnung, in der er mit ihr gewohnt hatte und in der er danach mit einer neuen Frau wohnte ... einer jungen, schönen Frau, an der alle ihre Freude hatten und die nie erfuhr, warum ich gekommen war. Er hielt sie aus allem vollkommen heraus, und als ich mit ihm über Brigitte reden wollte, gingen wir und setzten uns in eine Bar. Dort, auf einem merkwürdig altmodischen Plüschsofa, breitete er die Arme aus und wunderte sich, was ich eigentlich von ihm wollte; er bezahlte den Wein und fragte, ob ich auf Geld aus wäre... Damals säte er wohl selbst den Samen, aber erst als er mit den anderen zurückkehrte, wurde mir bewußt, daß die Zeit reif war. Als ich ihn tötete, war der Genuß groß. Tiefer und intensiver irgendwie als bei Eggers und Simmel, und das wundert mich gar nicht. Er war der Anstifter. Es war das Bild eines lebenden Maurice Rühme, das mich während meiner schlaflosen Nächte am stärksten geplagt hat, bevor
ich mich dazu entschloß ... ein lebendiger, lachender Maurice Rühme, der da in der Sofaecke sitzt, die Arme ausbreitet und bedauert, daß Brigitte nicht aus härterem Holz geschnitzt war. Daß sie so hart fallen und so schwer aufschlagen mußte ... das hatte er nicht erwartet, dieser reiche Junge mit dem dreifach doppelten Boden.«
    Er schwieg wieder und veränderte seine Sitzposition.
    »Ich muß dich jetzt verlassen«, sagte er. »Ich werde dir von den anderen ein andermal erzählen. Wenn nichts Unvorhergesehenes eintritt ...«
    Noch ein paar Minuten blieb er sitzen, dann hörte sie,

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