Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
weißt doch am besten, dass unsere kleine Priesterin ihre eigenen und durchaus scharfen Waffen hat. Auf ihre Art ist sie ein genauso gefährlicher Gegner wie du. Ihre magischen Fähigkeiten sind nicht mehr zu unterschätzen, ihr Schwert führt sie recht beachtlich, aber ihre List und Tücke sind ganz sicher am meisten zu fürchten. Sie ist viel zu sehr Ayalas Tochter, um hilflos zu sein. Sie sieht dich schmachtend an und streckt dich im nächsten Augenblick mit einem Blitz nieder. Gerade weil sie schwanger ist, wird sie unberechenbarer und gefährlicher sein als je zuvor. Genau wie du wird sie um euer Glück und die Zukunft eures Kindes kämpfen, und glaub mir, eine Mutter, die um ihr Kind kämpft, ist nicht zu unterschätzen, gleichgültig, wie zierlich sie gebaut ist.«
Beide schwiegen eine Weile, bevor Rhonan leise fragte: »Was kann sie nur vorhaben?«
»Sollte ich es jemals fertigbringen, Caitlins Gedankengänge nachzuvollziehen, wirst du der Erste sein, der es erfährt.«
Gideon schlief sehr schlecht in dieser Nacht, denn immer, wenn er erwachte, sah er seinen Begleiter am Lagerfeuer sitzen und mit leerem Blick in die Glut starren.
Auch am nächsten Tag sprach der Prinz kaum ein Wort, und Gideon konnte nur hoffen, dass sie zumindest auf dem richtigen Weg blieben. Wälder, sanfte Hügel und Täler wechselten sich ab, während sie, so schnell es die Pferde zuließen, den Sümpfen entgegenritten.
Gegen Abend wurde der Himmel vor ihnen vom Schein vieler Lagerfeuer erhellt. Etwas langsamer näherten sie sich und sahen in einer Senke das Lager eines riesigen Heeres vor sich. Zwischen Zelten und Pferden und vielen großen und kleinen Lagerfeuern tummelten sich unendlich viele Krieger.
Rhonan zuckte bei dem Anblick regelrecht zusammen. Er fühlte sich nie wohl unter Menschen, und so viele auf engem Raum hatte er noch nie zuvor gesehen. Unwillkürlich ließ er sein Pferd stillstehen und zog sich die Kapuze über.
Gideon schüttelte leicht den Kopf, lächelte ihn beruhigend an und deutete mit der Hand auf die Banner.
»Siehst du das Wappen? Das ist eine Armee von Königin Morwena, die wohl auf dem Weg zur Zitadelle ist. Du kannst deine Kapuze also wieder abnehmen. Wir sollten in Erwägung ziehen, die Nacht in ihrem Lager zu verbringen.«
»Ich weiß nicht so recht. Lass sie uns lieber umgehen!«
»Rhonan, du kannst nicht ewig vor deinem eigenen Volk davonrennen. Sie warten doch alle auf dich.«
Offensichtlich war das die falsche Aufmunterung gewesen, denn der Prinz verlor alle Farbe und sah jetzt eher gehetzt drein.
Bevor er jedoch Reißaus vor seinen Untergebenen nehmen konnte, erklärte der Gelehrte schnell: »Siehst du da das große Zelt mit dem Banner? Das ist das Zelt der Königin. Ich könnte mir denken, dass auch Prinz Canon hier ist. Vielleicht weiß er ja von Hylia etwas über Caitlin.«
»Das könnte sogar sein. Wir sollten es zumindest versuchen«, erwiderte Rhonan sofort, atmete tief durch, presste die Lippen zusammen und ließ sein Pferd wieder antraben.
Gideon schüttelte erneut lächelnd den Kopf. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Begleiter Canon lieber in einem Rudel Wölfe gesucht hätte. Wenn etwas seinem jungen Freund Angst machen konnte, dann waren es Menschenansammlungen, und hier lagerten wohl annähernd dreitausend Mann.
Es waren nur wenige Zelte aufgestellt worden, denn die meisten Krieger schliefen unter freiem Himmel. Überall brannten Feuer, und es herrschte ein lautes und munteres Treiben. Den Besuchern, die ihre Pferde jetzt am Zügel führten, wurde nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Gideon fragte sich zum Zelt des Heerführers durch.
Endlich dort angekommen, versperrten ihnen zwei Gardisten den Weg. »Kein Zutritt! Hier gibt’s nichts für euch. Wenn ihr was essen wollt, geht zum großen Lagerfeuer da hinten«, erklärte einer mit freundlichem Lächeln. »Wenn ihr euch uns anschließen wollt, geht zum Zelt mit den gekreuzten Fahnen davor.«
»Wollen wir beides nicht, wir wollen nur Canon Far’Lass sprechen«, entgegnete Rhonan. »Es ist sehr wichtig.«
»Wichtig für wen?«
»Geh und melde, dass Rhonan da’Kandar den Heerführer zu sprechen wünscht«, forderte Gideon mit strenger Miene.
Die Gardisten musterten die staubigen, schlicht gekleideten Männer, grinsten sich an, und einer von ihnen bat mit immer noch freundlicher Stimme: »Kommt, macht keinen Aufstand! Ihr müsst euch nichts ausdenken, um Essen zu bekommen. Mit der Verpflegung sieht es bei uns gut
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