Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
»Sollen Derea oder ich dich nicht zumindest bis zum Argonsee begleiten? Du siehst verdammt schlecht aus.«
»Ihr werdet mir mehr helfen, wenn ihr am Wolkenberg auf mich wartet. Die Kalla werden sich schon um mich kümmern, wenn es nötig sein sollte.«
Rhonan ergriff Canons Schultern, drückte sie fest und sah ihn beschwörend an. »Lasst euch bloß etwas Gutes einfallen. Das wird eine verdammt harte Nuss, aber wir müssen sie knacken, wenn letztlich nicht doch alles vergebens gewesen sein soll.«
Morwenas Sohn legte jetzt auch seine Hände auf die Schultern seines Gegenübers und bat mit ernster Stimme: »Verlass dich auf uns, Schwager! Wir haben nicht so lange gegen Camora gekämpft, um jetzt Ayala das Feld zu überlassen. Wir werden es irgendwie schaffen.«
Beide sahen sich längere Zeit in die Augen, sahen jeweils Entschlossenheit und nickten schließlich.
Rhonan ging zu Gideon und rüttelte sanft an dessen Schulter.
Der Gelehrte rappelte sich verschlafen hoch, rieb sich die Augen, reckte und streckte sich und sah den Prinzen verblüfft an. »Du meine Güte! Du bist schon wieder auf den Beinen? Wie geht es dir?«
»Gut genug! Gideon komm, ich benötige dringend deine Hilfe als Übersetzer. Wir müssen zu den Flugechsen.«
Während der Verianer sich vollends erhob, seine Kleider ordnete und sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte, erklärte Rhonan erneut sein Vorhaben. Gideon wurde immer bleicher, nickte aber im Anschluss an den Bericht. »Ich fürchte fast, das ist die einzige Lösung, auch wenn sie mir überhaupt nicht gefallen will. Aber willst du nicht zumindest noch einen oder zwei Tage warten? Deine Wunden …«
»Sind bestens versorgt und werden hier oder dort heilen. Du hast doch gehört, dass es Caitlin sehr schlechtgeht. Wir können nicht warten. Und Gideon, gleichgültig, was auch immer geschieht, du gibst die Siegel in keinem Fall heraus, bevor die Frauen hier lebend eingetroffen sind. Sollte es nicht anders gehen, vernichte sie! Und jetzt komm, bevor Darius oder Morwena hier auftauchen.«
Er wandte sich noch einmal Canon zu. »Ich verlass mich auf dich, dass Caitlin und Gideon in Sicherheit gebracht werden. Steckt Caitlin meinetwegen mit einer Dienerin zusammen in einen sehr bequemen Kerker, aber lasst sie auf keinen Fall zum Wolkenberg kommen, hörst du. Lasst euch nicht von ihr überrumpeln. Sie ist sehr findig.«
Canon ergriff die hingestreckte Hand und drückte sie fest. »Ich verspreche es dir. Meine Mutter wird sich gut um sie kümmern. Viel Glück!«
Nur wenige Krieger waren schon auf den Beinen, als Rhonan und Gideon durch das Lager eilten. Doch die wenigen sanken umgehend auf ein Knie und baten: »Lang lebe unser Großkönig!«
Das beschleunigte Rhonans Schritte noch mehr.
Canon sah ihnen nach und seufzte tief.
»Guten Morgen!« Margas Stimme klang immer noch verschlafen. »Wo ist denn unser König hin?«
Er drehte sich um. »Morgen, Marga! Rhonan ist unterwegs, um seine Frau zu holen.«
Bei seinen Worten streckte er ihr die Hand hin und half ihr hoch.
Sie nickte ihm dankbar zu und dehnte sich. »Ich komm mir richtig erbärmlich vor. Hab nur auf der Erde geschlafen und fühl mich zerschlagen, und der reist schon wieder durch die Gegend. Ich geh mich jetzt erst einmal frisch machen. Bis …«
Sie wollte sich an Canon vorbeischieben, aber der hielt sie am Arm fest. »Ich muss mit dir reden. Mehr sogar: Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Klar! Was gibt’s?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Wild fuhr er sich übers Kinn. »Setz dich lieber!«
Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, setzte sich selbst aufs Bett, knetete seine Oberschenkel und schüttelte immer wieder den Kopf.
Marga grinste ihn an. »Jetzt bin ich aber richtig gespannt. Du wirkst fast aufgeregt.«
Er sah sie entschlossen an, erklärte »Wohl an!« und erzählte ihr von der Gefangennahme Junas und dem anstehenden Verfahren.
Marga schenkte sich währenddessen einen Becher Wasser ein und trank. Ihr Gesichtsausdruck wurde von Satz zu Satz zufriedener.
»Geschieht der Hexe recht. Endlich bekommt sie, was sie verdient«, erklärte sie im Anschluss an seinen Bericht.
»Sie hat Derea das Leben gerettet«, gab er zu bedenken, aber sie wischte den Einwand mit einem abfälligen Winken und einem Auflachen weg. »Ohne sie wäre er ja gar nicht erst in die Lage gekommen, gerettet werden zu müssen.«
Er versuchte es anders. »Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie Maluch getötet hat.«
»Ich auch nicht.«
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