Ein gefährlicher Plan
1 . KAPITEL
Nach vierund zwanzig Jahren hatte Brooke Snowden ihre Schwester wieder gefunden – und gleich ein zweites Mal verloren.
So hatte sie sich das Zusammentreffen nicht vorgestellt. Statt Freudenschreien und Aufeinanderzurennen in der Ankunftshalle, statt liebevoller Umarmungen und langer Gespräche, die ihnen geholfen hätten, die lange Zeit der Trennung zu überbrücken, herrschte Stille, eine unnatürliche, drückende Stille.
„Alyssa..."
Ihre Zwillingsschwester lag im Krankenhausbett, eine leblose Hülle ihrer selbst. Das kurze blonde Haar war größtenteils von einem dicken Verband verdeckt. Ihre Haut wies eine fahle Blässe auf. Die bläuliche Vene des einen Arms stand deutlich hervor. In ihr pulsierte das Leben. Der andere Arm war eingegipst. Ihr Gesicht und eine Hand waren mit dunklem Schorf bedeckt, dort, wo die Wunden langsam abheilten. In ihrer Schwester ihr zerschundenes Ebenbild zu erblicken war erschreckend.
Zögernd griff Brooke nach Alyssas Hand. Aber sie spürte nichts von der Wärme, die sie von früher her kannte, das dumpfe Klopfen des Pulses teilte ihr nichts mit. Nicht einmal das leiseste Gefühl des Schmerzes übertrug sich auf sie.
Es gab so viel zu sagen, zu erklären, zu fühlen, aber dieser Mensch, einst wie ein Teil von ihr, war eine völlig Fremde für sie. Eine Fremde, die sie so verzweifelt gern wieder kennen lernen wollte.
„Erinnerst du dich ...?" begann sie, brach ab und schluckte. Alyssa fehlte ihr, jetzt mehr als damals, als sie gedacht hatte, sie wäre für immer gegangen.
„Ich habe es nicht gewusst." Brooke setzte sich auf die Bettkante, und die Matratze senkte sich unter ihrem Gewicht. Schnell erhob sie sich wieder, fürchtete, sie könne irgendwelchen Schaden an den Schläuchen anrichten, die Alyssa am Leben erhielten. „Mom hat mir erzählt, dass du und Dad tot seid. Ein Autounfall. Gleich nachdem sie ... fortging."
Brooke wandte sich ab von der unbeweglichen Gestalt, die ihre Schwester war. Draußen vor dem Fenster schien warm die Sommersonne, spiegelte sich in den Scheiben. Aber die schöne Aussicht auf Boston war ihr gleichgültig. Sie war einzig und allein Alyssas wegen hier.
„Wenn Mom nicht einen Herzinfarkt erlitten hätte, wüsste ich es immer noch nicht."
Brooke kam sich ein wenig komisch vor, mit jemandem zu sprechen, der aussah, als würde er schlafen. Ihre Stimme schien zu laut, hallte von den nackten Wänden und dem blitzblanken Boden wieder. Verzweifelt versuchte sie, Zugang zu ihrer Schwester zu finden, konnte nicht einfach aufhören zu reden. Sie senkte die Stimme fast zu einem Flüstern – so, wie sie mit ihren Vorschulkindern sprach. „Sie hatte Angst zu sterben. Ich glaube, sie wollte ihr Gewissen erleichtern."
Brooke schloss die Augen bei der Erinnerung an das Geständnis ihrer Mutter, an das Mitleid und die Bitterkeit, die sie immer noch empfand.
„Sie tat es nicht. Sterben, meine ich. Sie erholt sich jetzt in einem Pflegeheim in San Diego. Bald wird sie wieder gesund sein."
Sie begann, auf und ab zu gehen. Bei jedem Schritt gaben die Gummisohlen ihrer Leinenschuhe ein quietschendes Geräusch von sich. Sie blieb stehen, schaute verwirrt auf ihre Füße und ließ sich in den beigefarbenen Sessel sinken.
„Ich rief an, sobald ich konnte. Aber... es war bereits zu spät." Sie starrte auf ihre Schwester und knetete unruhig die Hände. „Eine Frau, die sich mit Franny Cotter meldete, sagte mir, dass du einen Unfall hattest. Ich musste herkommen."
Wir passen aufeinander auf. Das Kindheitsversprechen ging ihr durch den Sinn, weckte Schuldgefühle, weil sie es nicht hatten einhalten können. „Ich habe es nicht gewusst, Aly. Ich habe es nicht gewusst."
Rastlos stand sie wieder auf. Sie wollte nicht weinen. Sie musste etwas tun. Handeln. Diese Hilflosigkeit hielt sie nicht aus. Und doch gab es nichts, was sie für Alyssa hätte tun können.
Plötzlich kam ihr die rettende Idee.
Sie konnte bei ihr bleiben.
Erst in zwei Monaten begann die Schule wieder. Sie würde sich in der Krankenhausbibliothek alles über Komapatienten anlesen. Sie würde einfach für ihre Schwester da sein.
Es konnte der erste Schritt zur Heilung sein – für sie beide.
Plötzlich war sie von neuer Energie erfüllt, jetzt, da der Entschluss gefasst war.
Sie griff in ihre Handtasche und zog Notizbuch und Kugelschreiber heraus, um sich gleich eine Liste zu machen. Sie brauchte ein Zimmer hier in der Nähe, wollte ihre Mutter anrufen, dann musste sie
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