Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
könnte man meinen, sie will nicht beten, sondern die Götter schlichtweg überreden, sich um uns zu kümmern. Ich denke manchmal, dass die Götter uns nur schützen aus lauter Angst, ihre Gebete für den Überlebenden könnten sonst gar kein Ende mehr nehmen. Außerdem will ich vor morgen früh noch etwas Schlaf kriegen.«
Derea sah ihn besorgt an. »Konntest du Mutter davon abbringen, mit uns zu kommen?«
»Aber ja!« Canon grinste übers ganze Gesicht. »Ich hab ihr lediglich etwas ausgeschmückt, also eher ganz frei ausgeschmückt, erzählt, wie du kotzend von der Echse gefallen bist und wie wir dich dann wiederbeleben mussten, da wollte sie auf einmal doch nicht mehr.«
Sein Bruder blieb stehen und fragte voller Empörung: »Wie ich … Ich bin doch nicht … Also wirklich! Mir hat die Fliegerei richtig gut gefallen.«
»Ja, aber das weiß sie ja nicht. Belassen wir es dabei. Du hast gesagt, ich müsste es ihr ausreden. Das habe ich getan. Nächstes Mal kannst du ja dein Glück versuchen.«
Derea kniff die Augen zusammen und nickte. »Ich hab verstanden. Du hast Juna vor dem Galgen gerettet, und das war jetzt die Rechnung.«
»So ist es, Kleiner! Mutter ist voller Mitgefühl für dich und wird dich gleich sicher erst einmal trösten wollen.«
»Manchmal würde ich dir gern den Hals umdrehen«, erklärte der Hauptmann mürrisch, aber Canon lachte auf.
»Lass gut sein! Ich hab ihr gesagt, wie peinlich dir die ganze Sache ist und dass sie dich besser nicht darauf ansprechen soll. Also wird sie dich nur an sich drücken und dich kräftig herzen. Aber da wir morgen in die Schlacht ziehen, hätte sie das ohnehin getan, oder?«
Derea nickte grinsend. »Ganz sicher!«
Sein Bruder legte ihm den Arm um die Schultern, und in bestem Einvernehmen machten sie sich auf den Weg zum Gebetssaal.
30. Kapitel
A yala stand auf einem kleinen Plateau vor einer Höhle und blickte über die Schlucht, in der die wenigen, trockenen Grasbüschel die rauhe und zerklüftete Umgebung noch trostloser erscheinen ließen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es ihr wohl gelingen würde, hier Blüten tragende Pflanzen anzusiedeln. Sie musste dann selbst darüber lachen, dass ihre Leidenschaft für die Gärtnerei sich offensichtlich nie ganz verdrängen ließ, nicht einmal im Angesicht einer Schlacht. Aber die berührte sie auch kaum. Sie würde genauso kurz und leicht wie endgültig sein. Fast glaubte sie schon, die erhabene Macht der Unsterblichkeit zu spüren, die jetzt zum Greifen nah war. Zufrieden sog sie die frische Bergluft in ihre Lungen.
Dann sah sie sich lächelnd zu Rhonan um, der in schwere Hand- und Fußketten gelegt, ein Stück hinter ihr stand. Auf die Ketten hatte sie nur bestanden, weil er damit auch nach außen hin sichtbar ihr Gefangener war. Sie wusste, dass er sie nicht angreifen würde, und sie bezweifelte, dass er dazu zurzeit überhaupt in der Lage wäre.
Allein auf dem Weg von der Festung zum Gebirge war er ein paar Mal beinahe gestürzt. Das enge Verlies und die fehlende Ernährung hatten Spuren hinterlassen. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, und immer wieder zuckte sein Körper unter Muskelkrämpfen. Sie wäre durchaus bereit gewesen, ihm bei ihrer Rast gnädig etwas zu essen zu geben, wenn er sie nur darum gebeten hätte. Aber er hatte es nicht getan. Seine Miene war bei ihrem ausgedehnten und üppigen Mahl genauso ausdruckslos geblieben wie bei ihrem Gang durch die da’Kandar-Festung und über den Burghof, dabei war sie absichtlich über den Platz gegangen, auf dem der Scheiterhaufen seinerzeit gebrannt hatte. Aber er hatte sich nicht ein einziges Mal umgesehen.
Was immer man über den da’Kandar-Bengel sagen konnte, er hatte sich gut im Griff. Doch auch das würde ihm letztendlich nichts einbringen. Beherrscht oder unbeherrscht – sterben würde er trotzdem nach getaner Arbeit.
Das Lächeln der Nebelkönigin vertiefte sich unwillkürlich bei diesem Gedanken.
»Wir haben eine sehr schöne Aussicht hier, nicht wahr? Wenn wir Junas Angaben trauen dürfen – und davon gehe ich aus –, ist das tapfere Befreiungsheer bald hier. Ach, habe ich Euch eigentlich schon gesagt, dass die Siegel endlich auf der Nebelinsel eingetroffen sind. Martha macht sich noch heute mit ihnen auf den Weg. Ich sage es ja immer: Dem, der warten kann, erfüllen sich am Ende alle Wünsche fast von selbst.«
In hilflosem Zorn ballte er die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen.
Er hatte bereits einer Demonstration
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