Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Anscheinend hatte sie ihre Stimme unwillkürlich der nahezu gespenstischen Umgebung angepasst.
Rhonan versuchte vergeblich, im dicken Nebel irgendetwas zu erkennen, flüsterte kaum hörbar: »Vergib mir, Caitlin!«, und brüllte dann, so laut er konnte: »Es ist eine Falle, Canon! Flieht aus der Schlucht! Schnell!«
Seine Worte, vielfach zurückgeworfen von den steilen Wänden, schienen Signal für vieles zu sein.
Ayala gab wutentbrannt das Zeichen zum Angriff, und die Schlucht verwandelte sich augenblicklich in ein gewaltiges Feuermeer. Wild züngelnde Flammen rasten durch den Nebel, fraßen ihn auf oder färbten ihn rot.
Ein hohes Kreischen schien über ihnen aus den Wolken zu kommen, Priesterinnen schrien schmerzerfüllt, Blitze zuckten und deckten zusammen mit Pfeilen die Berghänge ein. Der Himmel schien zum Leben zu erwachen, aber aus der Senke drang kein einziger Laut, bis auf das Knistern des Feuers.
Die junge Frau neben Rhonan stürzte schreiend auf die Knie und hielt sich die Ohren zu. Blut lief in einem dünnen Rinnsal über ihren Hals. Auch Ayala schwankte und stöhnte.
Rhonan nutzte die sich bietende Gelegenheit, hatte bereits Kahandar in den Händen und ließ knisternde, blaue Blitze aus der Klinge zucken. Die Priesterin brach mit einem letzten Schrei tot zusammen, aber Ayala lenkte den Zauber mit lautem Ächzen ab. Ihr Kleid wies einige kleine Brandlöcher auf, ihr linker Ärmel war völlig zerfetzt, und blutig und quer über ihre linke Wange verlief eine schwarzrote Brandspur.
Rhonan machte zwei wegen der Ketten recht kleine Schritte und holte aus, aber eine Druckwelle schleuderte ihn zurück gegen die Felswand, nagelte ihn förmlich daran fest.
»Du armselige Missgeburt wagst es, mich anzugreifen? Das wirst du schnell und tief bedauern«, zischte Ayala mit zornblitzenden Augen.
Ziemlich benommen versuchte er erneut einen Zauber, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Er fühlte sich wie gelähmt, das Schwert entglitt seinen völlig gefühllosen Händen. Während er bewegungsunfähig an der rauhen Felswand herunterrutschte, hörte er immer noch das hohe Kreischen und das Schreien der Nebelfrauen.
Die Echse ging noch in der dichten Wolkendecke in den Sturzflug über, Hylia schrie vor Schreck laut auf, und Canon, der hinter ihr saß, schlang die Arme um sie. Feuerfunken sprühten ihnen entgegen, sobald sie klare Sicht hatten, prallten aber an Hylias Schutzzauber ab.
Unmittelbar vor einer Höhle breitete die Echse ihre Flügel aus. Canon war schon mit einem Satz auf einem Vorsprung und reichte der Priesterin die Hand. »Los, schnell, komm!«
Sie sprang sofort in seine Arme.
»Gutes Mädchen«, lobte er. »Wie viele?«
Auf ihren verständnislosen Blick hin zerrte er sie in die Höhle und entfernte die Wachsstöpsel aus ihren Ohren. »Wie viele?«, wiederholte er.
»Wenn wir in der richtigen Höhle sind, zwei«, erwiderte sie kurzatmig. »Aber ich hab mittendrin die Richtung verloren.«
»Es ist die richtige. Geht es, Liebling?«
Sie lächelte dünn, nickte aber: »Lass mich jetzt vorgehen! Ich webe einen Schutz, du schießt.«
Canon schüttelte grinsend den Kopf und griff sich Pfeil und Bogen. »Ich habe ganz sicher die richtige Wahl getroffen. Meine Zukünftige beschützt mich.«
Sie eilten in den schummrigen, feuchtkalten Gang. Eine Feuerkugel von der Größe eines Weinfasses raste ihnen schon entgegen.
Canon sah überhaupt nichts, schickte aber auf gut Glück einen Pfeil in die Richtung, aus der das Feuer kam, und hörte erfreut einen heiseren Aufschrei.
Die züngelnde Kugel prallte auf eine unsichtbare Wand, Hylia ächzte kurz auf, und das Feuer erlosch.
Sie hasteten an einer Priesterin vorbei, aus deren Brust ein Pfeilschaft ragte, und sahen vor sich gerade noch einen Schatten. Erneut verließ ein Pfeil den Bogen. Kurz darauf ein weiterer. Der Schatten verschwand. Sie erreichten eine kleine Höhle und damit das Ende des Ganges. Wegen der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen.
Hylia ließ sofort eine Lichtkugel schweben, und Canon schaute sich genauso hektisch wie ratlos um. »Wo ist sie hin? Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Seine Begleiterin zuckte die Achseln und schluckte unbehaglich.
Er sah an der Wand vor sich einen dunklen Fleck auf dem Boden, glaubte einen Tropfen zu sehen, der den Fleck vergrößerte, verzog zweifelnd das Gesicht und schoss auf den Felsen. Er erkannte gerade noch, dass der Pfeil tatsächlich nicht abprallte, sondern stecken blieb,
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