Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Es könnte doch schließlich unser letzter Tag auf Erden sein.«
Sein tiefer Blick aus dunkelblauen Augen bescherte ihr erneut eine Gänsehaut. »Ich würde gern Juna küssen, sehr gern sogar, aber ich kann sie nicht finden – wie so oft. Wisst Ihr, wo sie gerade sein könnte?«
»Sie ist auf dem Wege, eine Fürstin zu werden. Wenn sie morgen den dämlichen Priesterinnen hilft, wird sie übermorgen Herrin über Camoras Fürstentum sein, reich und unabhängig. Ihr dürft sie dann gern besuchen.«
»Ist es das, was Ihr wolltet, Hexentochter? Reichtum und Unabhängigkeit?«
»Fragt mich ausgerechnet ein verwöhnter kleiner Prinz mit herablassender Stimme«, erwiderte sie höhnisch. »Ich bescheide mich doch. Ich wäre immerhin fast Großkönigin geworden, jetzt reicht mir schon der Fürstentitel.«
Jetzt lächelte er sie versonnen an. »Ihr könntet immer noch Prinzessin werden, das ist mehr als Fürstin. Mein Landgut ist auch größer als das von Camora. Ich war zwar selbst noch nie dort, aber es soll sehr schön sein, und ich würde es gern mit Euch zusammen aufsuchen.«
»Ihr würdet Euch auch dann mit mir verbinden wollen, wenn Ihr wüsstet, dass es mir nur um Euren Titel ginge?«
»Ich würde mich immer mit Euch verbinden wollen, weil ich weiß, dass es Euch nicht um Reichtum, Titel oder Macht geht. Ich liebe Euch, Juna, und bitte Euch erneut, meine Frau zu werden.«
Sie schluckte unwillkürlich und senkte wieder den Blick. Fahrig fuhren ihre Hände über ihren Rock. »Morgen! Lasst uns die Schlacht abwarten. Wenn Ihr morgen Abend noch gleichen Sinnes seid, fragt mich noch einmal. Dann werde ich Euch meine Antwort geben.«
»Welche Juna wird mir dann antworten?«
Sie sah hoch, und in ihren Augen schwammen Tränen. »Die wahre Juna, aber ich weiß nicht, ob sie Euch gefallen wird.«
Mit diesen Worten raffte sie schon die Röcke und eilte blind vor Tränen über den Hof in die Burg. Fast wäre sie in Canon hineingerannt, der ihr gerade auf der Suche nach seinem Bruder entgegenkam. Er entschuldigte sich höflich, aber sie hastete bereits weiter, ohne ihn überhaupt zu beachten.
»Was wird mir nicht gefallen? Hat sie jetzt die wahre Juna oder die Antwort gemeint?«, fragte Derea mit tief gerunzelter Stirn, als sein Bruder auf ihn zukam.
»Sollte das jetzt eine Frage an mich sein?«, wollte der wissen. »Dann musst du mir zuvor den Sinn erklären.«
»Sie liebt mich. Ich weiß es. Warum will sie es mir nicht sagen?«
Canons Gesicht blieb unbewegt. »Soll ich darauf antworten?«
»Warum versucht sie alles, um mich abzustoßen?«
»Auch eine schöne Frage, die bei Liebenden geradezu nach einer Antwort schreit.«
»Weißt du, sie will überhaupt nicht reich und mächtig sein. Warum behauptet sie es denn dann?«
»Fragen über Fragen«, murmelte Canon und schüttelte seinen Bruder sanft. »Derea, komm wieder zu dir!«
Der sah ihn verstört an. »Ich versteh sie einfach nicht.«
»Wenn mir etwas sonnenklar ist, dann das«, erwiderte der trocken. »Komm, Mutter will mit uns zusammen beten.«
»Warum sagt sie nicht einfach, was sie meint?«
Canon seufzte tief. »Jetzt pass mal auf, kleiner Bruder: Wer sich in eine Hexe verliebt, darf sich nicht wundern, wenn sich die Auserwählte auch wie eine aufführt. Ich kenne dich viel zu gut, um auch nur den Versuch zu machen, dir die Hexentochter auszureden, aber du solltest dir im Klaren darüber sein, dass es bedeutend schwieriger sein dürfte, sie zu führen als deine Flammenreiter. Ich habe mir immer Sorgen um dich gemacht, wenn du in eine Schlacht gegangen bist, aber glaube mir, ich werde mir viel größere Sorgen um dich machen, wenn du dich tatsächlich mit Juna verbindest.«
Er packte seinen Bruder bei den Schultern und blickte ihn ernst, fast beschwörend an. »Derea, du bist warmherzig, gefühlvoll und grundehrlich. Kannst du mir einmal verraten, wie ausgerechnet du es an der Seite dieser Frau aushalten willst? Nimm sie in deine Arme, und du hältst dein Unglück umschlungen. Vergiss nicht, dass sie sogar ihren Ziehvater ermordet hat. Gleichgültig, wer er für uns auch war, er hat sie großgezogen. Juna ist eine unglaublich schöne Frau, aber sie ist nur äußerlich schön. Niemals könntest du auf Dauer damit leben.«
»Du kennst sie nicht richtig«, erklärte Derea ungeduldig und ärgerlich zugleich.
»Du vielleicht?«, kam unverzüglich von seinem Bruder. »Komm jetzt! Du weißt, dass Mutters Gebete für uns immer ziemlich lang sind. Fast
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