Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
nun restlos überfordert. Eben noch verständlicherweise fassungslos angesichts der Annahme, entführt worden zu sein, dachte sie jetzt an eine Schneiderin? Die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte, waren gelehrte Verianerinnen oder eben die vernünftige Marga gewesen. Mit dieser schönen, jedoch offensichtlich verrückten jungen Frau konnte er nicht das Geringste anfangen, und er sah sie mit wachsendem Unbehagen an. »Prinzessin, wir haben eine Reise in die Berge vor uns. Wir werden uns daher mit warmer Kleidung versorgen. An gesellschaftlichen Ereignissen werden wir nicht teilnehmen, weil wir uns sozusagen auf der Flucht befinden.«
Sie schüttelte sich und ihre feurige Haarpracht und stampfte mit dem Fuß auf. »Oh, wie ich das hasse! Ihr seid genauso wie Hauptmann Cornelius. Gehört zu einer Flucht denn zwangsläufig, dass man schlecht gekleidet sein muss?«, fragte sie spitz.
»Das nicht unbedingt«, erwiderte er. »Man sollte zweckmäßig gekleidet sein. Glaubt mir, der Prinz wird auch nicht in einer Robe hier erscheinen. Er würde es sicher eher seltsam finden, wenn Ihr hier in einem Festgewand auftaucht.«
Caitlin nickte bedächtig. »Ihr wollt mir damit sagen, dass er im Augenblick als Krieger unterwegs ist. Das kann ich verstehen. Trotzdem benötige ich eine Schneiderin. Schließlich bin ich nicht die Tochter eines Kaufmanns, sondern eine Prinzessin der Nebelinsel. Ist sein Heer auch in Kairan?«
»Sein Heer? Äh, … nein. Wie ich schon sagte, werden wir in aller Heimlichkeit reisen. Wenn Ihr jetzt vielleicht die Güte hättet, mir zu folgen. Es wird Zeit, dass wir nach Kairan gehen. Wärt Ihr so nett und würdet mir zuvor Euren Namen verraten?«
Er wunderte sich, dass sie keinerlei Einwände erhob. »Caitlin«, sagte sie und begleitete ihn in Gedanken versunken.
Kurze Zeit später hatte er sie im kleinen Gasthof Fliegender Hirsch untergebracht. Es war die dritte Herberge gewesen, die sie aufgesucht hatten, und die erste, die Caitlins Beifall gefunden hatte. Neben einer großen Wanne gab es hier auch noch ein Dampfbad. Der Preis für die Benutzung eines fensterlosen Raums, dessen Feuer ständig mit Duftölen und Wasser befeuchtet wurde, überschritt den Preis für die Vermietung der Zimmer um einiges, aber Gideon willigte sofort ein. Er musste eine Magd überreden, der Prinzessin als Zofe zu dienen, da die sich außerstande sah, allein mit so schwierigen Dingen wie Auskleiden und Baden fertig zu werden.
Gideon sah Böses auf sich zukommen: Was sollten sie in den Bergen mit einer Begleiterin anfangen, die schon in einem Gasthaus nicht allein zurechtkam? Er konnte nur hoffen, dass sich zumindest der Prinz als tauglicher Reisegefährte erwies. Andernfalls konnten sie sich gleich Camoras Horden ergeben. In düsteren Gedanken gefangen betrat er die Straße.
Kairan war groß, neben Mar’Elch die größte Stadt überhaupt! Zwei-, sogar dreistöckige Steinhäuser säumten Straßen, die hoffnungslos überfüllt waren. Ochsenwagen zwängten sich durch eine fluchende Menge, und Kutscher brüllten laut, um den Weg frei zu machen, Handkarren rumpelten über die steinigen Wege, und Händler, Handwerker, Marktfrauen und Bettler schoben sich aneinander vorbei. Eine Herde Bergziegen wurde mittendrin von Kindern zum Markt getrieben. In seinem Turm war schon das Kratzen einer Feder als Belästigung empfunden worden, ein derartiges Getöse kannte er nicht. Selbst die Kalla waren ihm demgegenüber gesittet und ruhig erschienen. Wie sollte er hier nur einen ihm unbekannten Mann finden?
»Geh der kalten Sonne nach!«, war der einzige Anhaltspunkt, den er von Dala erhalten hatte. Guter Ratschlag! Es war klirrend kalt und wolkenverhangen. Es sah nach Schnee aus, aber eine Sonne war weit und breit nicht zu sehen.
Gideon verschränkte die Arme über seinem Brustbeutel, aus Angst vor Dieben, und fragte sich zum Markt durch, um seine Einkäufe zu erledigen. Dabei ließ er seine Blicke umherschweifen und erregte prompt die Aufmerksamkeit von Bettlern, die ihn meist humpelnd und immer stinkend bedrängten. Kleine Münzen wechselten den Besitzer, und Gideon war froh, als er den Freimarkt erreichte, den Bettler nicht betreten durften. Von Händlern entlohnte Stadtwachen sorgten dafür, dass dieses Verbot strikt eingehalten wurde. An Ständen oder in Gattern wurde hier alles feilgeboten, was es gab: Fleisch, Tuch, Garne, Nadeln, Wein, Vieh … Es war bunt, und überall wurde um den Preis gefeilscht.
Gideon schob sich
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