Das Wahre Kreuz
Malaku’1-Maut, den Todesengel. Meine Mutter hat sie mir kurz vor ihrem Tod erzählt. Stirbt ein Mensch, trennt Malaku’1-Maut die Seele des Sterbenden vom Körper. Drei Sorten von Seelen gibt es nach unserem Glauben: Die Seelen der Propheten finden gleich nach dem Tod Einlaß ins Paradies; die Seelen der Märtyrer warten in den Kröpfen grüner Vögel, die sich von den Früchten des Paradieses ernähren, auf ihre Auferstehung; die Seelen der übrigen Gläubigen verwandeln sich in weiße Vögel und harren zu Allâhs Füßen der Auferstehung. Nach der Legende, die ich von meiner Mutter gehört habe, gibt es aber noch eine vierte Art von Seelen. Sie gehören den Menschen, die auf Erden eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben, durch den Tod aber daran gehindert werden.
Diese Seelen werden vom Todesengel in einem goldenen Gefäß gesammelt und erhalten von ihm ein neues Leben und einen neuen Körper, wenn die Zeit gekommen ist, daß sie ihre Aufgabe beenden können.«
»Also hältst du mich für eine Seele aus dem goldenen Gefäß des Todesengels?«
Ourida atmete tief durch und sah in den sternenfun-kelnden Nachthimmel. »Malaku’1-Maut weiß es.«
»Und warum hat er meine Seele gerade jetzt zurück-geschickt?«
»Vielleicht weil jetzt, wie vor Jahrhunderten schon einmal, die Christen ins Morgenland einfallen.«
»Wenn es wirklich so ist, dann bin ich Malaku’1-Maut zutiefst dankbar. Nicht nur, weil ich vollenden kann, was Roland de Giraud einst begann. Sondern auch und genauso sehr, weil ich dadurch dich gefunden habe!«
Wir umarmten uns, hielten einander fest, und ich wünschte, es möge für die Ewigkeit sein.
40. KAPITEL
Das Versteck
m wilden Galopp, weit über den Hals seines Rap-I pen gebeugt, kehrte der Beduine, der als Späher vorausgeritten war, zu uns zurück.
Es war der zweite Nachmittag, seit wir die alte Rö-
merfestung verlassen hatten, und wir rechneten damit, bald den Wüstentempel zu erreichen, das Versteck des Wahren Kreuzes. Bislang waren wir ohne jeden Zwi-schenfall vorangekommen, aber jetzt ließen die Eile und die angespannte Miene des Spähers das Schlimmste befürchten.
Belkassim zügelte sein Pferd erst im letzten Augenblick und deutete aufgeregt nach Nordosten. Dort lag Kairo.
»Viele Soldaten kommen von dort, Frankensoldaten!«
Wir blickten in die Richtung, in die er zeigte, konnten aber nichts erkennen, weil sich parallel zu unserer Marschrichtung eine Kette hoher Sanddünen erstreckte.
Murad, auf dessen Wort die letzten Krieger der Abnaa Al Salieb hörten, Ourida, Onkel Jean und ich trieben unsere Pferde an und ritten auf die Dünen zu.
Bevor wir den höchsten Punkt erreicht hatten, stiegen wir ab und rammten die Holzpflöcke in den Boden, an denen wir die Pferde festbanden; eigens zu diesem Zweck hatte jeder Reiter einen solchen Pflock dabei.
Auf allen vieren krochen wir zur Kuppe der Sanddüne, spähten nach Nordosten und erblickten eine langgezogene Kette von Soldaten und Packtieren.
»Das ist eine kleine Armee«, sagte mein Onkel. Ich zog das Fernrohr hervor und blickte hindurch. An der Spitze der Kolonne ritt auf einem Schimmel ein drahtiger, kleiner Mann in einer vom langen Marsch ver-schmutzten Generalsuniform.
»Bonaparte selbst führt die Truppe an!« rief ich.
»Was will er mit den vielen Soldaten beim Tempel? Ich dachte, er würde auf direktem Weg zum Unterschlupf der Kreuzritter eilen.«
Auch Onkel Jean schaute durch das Fernrohr. »Ich sehe nur Infanterie und ein paar leichte Geschütze; bis auf einige Husaren für die Vorhut und die Flankensi-cherung keine Kavallerie. Vermutlich hat er, nachdem er Maruf ibn Saad zum Sprechen gebracht hat, die schnellere Kavallerie zu der alten Burg geschickt und ist selbst mit diesen Truppen zum Tempel aufgebrochen.«
»Aber warum?« fragte ich noch einmal.
»Darüber können wir nur spekulieren. General Bonaparte ist bekannt für seine Intuition. Vielleicht ist er ihr gefolgt, als er sich entschloß, mit einem größeren Trupp zum Tempel aufzubrechen. Vielleicht hat er auch etwas in Erfahrung gebracht, von dem wir nichts wissen. Sei’s drum, jedenfalls ist er hier! Zwar bewegen sich seine Soldaten langsamer als wir, aber selbst wenn wir uns beeilen, sind wir allenfalls eine halbe Stunde vor ihm beim Tempel. Es könnte knapp werden, besonders wenn er auf die Idee kommt, ein paar Husaren vorauszuschicken.«
Er reichte das Fernrohr an Ourida und Murad weiter, und Ourida sagte: »Wir müßten die Soldaten ab-lenken
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