Das Wahre Kreuz
unterwegs nicht den Halt verlor und zu Boden stürzte. Schließlich setzte sich unser kleiner Zug in Bewegung, geradewegs nach Nordosten. In jener Richtung lag Kairo, das wir am folgenden Abend zu erreichen hofften.
Zunächst jedoch stießen wir, wie geplant, auf das kleine Felsplateau, das Sergeant Kalfan als unser Nachtlager ausersehen hatte. Wir mußten einen Skorpion verscheuchen, als wir unsere Decken auf dem Boden ausbreiteten, der, sobald die Sonne versunken war, merklich abkühlen würde. Mehr Sorge als Skorpione und die nächtliche Kälte, die in der Wüste einen so großen Kontrast zur am Tag herrschenden Hitze bildet, bereiteten mir allerdings die Ritter aus dem Tempel, die möglicherweise hinter uns her waren. Bisher hatten wir nichts von ihnen bemerkt, und trotz aller Neugier hoffte ich, daß es dabei blieb.
Wir schlugen keine Zelte auf und zündeten kein Feuer an, um unseren Aufenthaltsort nicht ohne Not zu verraten. Unsere Mahlzeit bestand aus kaltem Pökel-fleisch, hartem Ziegenkäse und trockenem Brot. Zum Glück steuerte Onkel Jean aus seinen scheinbar unerschöpflichen Vorräten eine Flasche Wein bei, die unserem kargen Mahl ein wenig von seiner Trostlosigkeit nahm.
Nach dem Essen kümmerte sich Ourida, als sei das eine Selbstverständlichkeit, um Gaspard und wechselte seinen Verband. Ich ging zu ihr und sprach sie an. Sie antwortete nur mit einem langen Blick, den ich nicht zu deuten vermochte. Lag darin Sympathie – oder vollkommene Gleichgültigkeit? Ourida faszinierte mich immer mehr. Das lag nicht allein an ihrer Schönheit, sondern auch an dem Geheimnis, das sie umgab.
Was verband sie mit den Rittern, aus deren Gewalt wir sie gerettet hatten? Gehörten sie demselben Stamm an, demselben Volk? Aber die Männer im Tempel hatten französisch gesprochen, wohingegen Ourida nicht reagierte, wenn man sie in meiner Muttersprache anre-dete.
Vielleicht verstellte sie sich auch nur. Alles schien möglich, und die Nacht, die sich fast übergangslos über die ägyptische Wüste legte, trug nicht zur Aufklärung des Geheimnisses bei.
Trotz der Erschöpfung, die ich nach diesem Tag spürte, drehte sich das Rad meiner Gedanken noch lange, aber irgendwann nickte ich doch ein. Wirre Traumbilder begleiteten meinen Schlaf.
Ich sah die Ritter aus dem alten Tempel vor mir, aber ich kämpfte nicht gegen sie, sondern an ihrer Seite.
Ja, ich war einer von ihnen, trug einen Mantel und ein Kettenhemd. Mit Schwert und Schild verteidigte ich mich gegen eine anstürmende Übermacht wilder orientalischer Krieger, und es schien ein aussichtsloser Kampf zu sein. Meine Muskeln schmerzten, mein Arm wurde schwer, während ich Hieb um Hieb austeilte.
Aber für jeden Angreifer, der vor mir fiel, tauchten zwei neue auf, und meinen Mitstreitern erging es nicht anders. Furcht befiel mich, nicht um mein Leben, sondern um etwas anderes, etwas Großartiges, Wichtiges
…
»Das Kreuz!«
Vor mir tauchte ein vertrautes Gesicht auf, das längliche, fast asketisch anmutende Antlitz meines Onkels, das ich in der klaren, mondhellen Nacht deutlich erkannte.
»Junge, was ist mit dir?« fragte er besorgt und packte mich fest an der Schulter.
Der Traum fiel von mir ab, und das Klirren der Waffen verhallte. Die Nacht war still, nur das kurze Kläffen eines einsamen Wüstenfuchses klang zu uns herüber.
Aber ich spürte noch immer tiefe Furcht in mir.
Schweiß stand auf meiner Stirn, obwohl es bitterkalt war.
»Du hast schlecht geträumt«, stellte Onkel Jean fest, während er mit seinem Taschentuch meine Stirn trocknete. »Aber es ist vorbei, also beruhige dich!«
»Es war so – lebensecht!« stieß ich hervor und hörte selbst die im Traum empfundene Angst in meiner Stimme. »Niemals zuvor habe ich einen Traum so deutlich erlebt. Als sei ich tatsächlich einer der Ritter gewesen.«
»Was hast du geträumt?« fragte mein Onkel sanft.
Ich erzählte ihm alles, konnte aber seine Fragen, wer die Ritter an meiner Seite und wer die Angreifer gewesen seien, nicht beantworten.
»Worum ging es bei dem Kampf?« fragte Onkel Jean weiter. »Ich glaube, die Ritter wollten etwas vor den Angreifern beschützen. Aber ich kann nicht sagen, was das war.«
»Beim Aufwachen hast du etwas von einem Kreuz gerufen.«
»Habe ich das?« erwiderte ich, denn auch daran konnte ich mich nicht erinnern. »Es tut mir leid, wenn ich Sie und die anderen erschreckt habe, Onkel. Aber der Traum war so ungewöhnlich, beinahe unheimlich.«
Mein Onkel
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