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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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lächelte und nickte, nickte, nickte. Sie würde nicht eingreifen, verstand Nevada. Im Gegenteil, sie unterstützte das Wortgefecht.
    Â«Lasst alles raus», sagte sie. «Dies ist ein sicherer Raum!»
    Nevada bezweifelte das. Sie fühlte sich nicht sicher. Elma lag scheinbar schlaff im Stuhl, aber Nevada fühlte, wie sich der Körper neben ihr verdichtete, wie er immer härter wurde, immer angespannter. Deniz’ Hände verkrampften sich auf ihrem Bauch. Lana blickte hilflos von einer zur anderen. Immer lauter riefen die Mädchen durcheinander. Sie verfielen in ihre Muttersprache, die Nevada nicht verstand. Frau Siebenthaler offensichtlich auch nicht. Immer noch nickte sie ermunternd.
    Plötzlich sprang Elma auf. Der kleine Stuhl krachte hinter ihr zu Boden. Sofort verstummten die anderen. Einen Augenblick lang war es still. Unmerklich drehte Nevada die Räder ihres Rollstuhls so, dass sie Elma aufhalten konnte, bevor sie sich auf Tugba oder Zeynep stürzte.
    Dann stand Rebecca auf. «Können wir jetzt gehen?», fragte sie in gelangweiltem Ton. Als habe sie von der Auseinandersetzung nichts mitbekommen. «Ich hab noch Französisch-Nachhilfe.» Ohne eine Antwort abzuwarten, hob sie ihre riesige Umhängetasche auf, die an dem mageren Körper noch überdimensionierter wirkte und ging hinaus. Elma schnaubte. Dann packte sie die Griffe von Nevadas Rollstuhl und schob sie hinter Rebecca her.
    Die Chipstüte fiel von Nevadas Schoß und wurde von den Rädern ihres Stuhls überrollt.
    Â«Elma!» Der Rollstuhl hielt so abrupt an, dass Nevada fast nach vorn hinausgekippt wäre. Sie hielt sich an den Lehnen fest. Viel zu schnell hatte Elma sie durch die Siedlung geschoben, die ganze Zeit laut vor sich hin fluchend. Und jetzt hätten sie beinahe ein Kind überfahren. Kein Kind. Einen winzigen alten Mann. Er trug bei der Hitze eine schwarze Mütze und eine grobe schwarze Jacke. Sein Gesicht war zerknittert. Seine Lippen geschminkt – kein Mann. Eine uralte Frau. Sie ging an zwei Stöcken, um den Hals trug sie einen Beutel aus dunkelrotem, besticktem Samt. «Elma», sagte sie noch einmal streng. Elma ließ den Rollstuhl stehen. Sie strich der alten Frau über die Schulter, redete leise auf sie ein, in einer Sprache, die Nevada nicht verstand. Die Alte wurde lauter. Fest auf ihre Stöcke gestützt, zeigte sie mit dem Kinn auf Nevada. Schließlich fasste Elma in den Stoffbeutel und zog einen kleinen Packen Alufolie hervor. Sie reichte ihn Nevada, ohne sie anzuschauen.
    Â«Das ist ein Geschenk von meiner Großmutter», murmelte sie. «Weil Sie so gut auf mich aufpassen …» Elmas verschlossenes Gesicht rötete sich. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, bevor sie die nächsten Worte aussprach. Noch leiser. «Sie sagt, ich sei ein gutes Mädchen …»
    Â«Da hat sie recht», sagte Nevada.
    Elma hob verlegen die Schultern. «Ich muss sie nach Hause bringen, die Hitze bekommt ihr nicht.»
    Â«Mir auch nicht.» Nevada lächelte der alten Frau zu. Sie war so winzig. Kein Wunder, dass Elma so behutsam war. Wenn sie nicht gerade wütete.
    Die alte Frau zeigte wieder mit dem Kinn auf sie.
    Â«Sie sollen das Geschenk auspacken. Es ist eine Decke», sagte Elma schnell. «Sie müssen sie nicht behalten, wenn sie Ihnen nicht gefällt.»
    Ungeschickt wickelte Nevada die Alufolie auf und faltete eine hauchzarte Spitzendecke auseinander. «Elma – sie ist wunderschön!»
    Das schien die alte Frau zu verstehen, denn sie nickte zufrieden, bevor sie sich umdrehte. Elma zuckte mit den Schultern. Dann bückte sie sich zu ihrer Großmutter hinunter, so dass diese sich bei ihr einhängen konnte, und nahm ihr den zweiten Stock ab. Sehr langsam und sehr schief gingen sie nach Hause. Nevada schaute ihnen nach, bis sie in einem der Eingänge verschwunden waren.
    Â 
    An der Sitzung am Nachmittag schaute Frau Siebenthaler Nevada nicht in die Augen. Sie legte nur ihren Bericht vor: Die Mädchen hätten in den fünf Wochen täglicher Auseinandersetzung miteinander und mit ihren Gefühlen gelernt zu kommunizieren, sich gegenseitig zu respektieren und Konflikte gewaltfrei auszutragen. Als Nevada an der Reihe war, zögerte sie einen Augenblick. Sollte sie sagen, was sie dachte? Oder sollte sie es sich einfach machen? Ihre Knochen waren müde, ihr Herz war wund. Sie machte es sich einfach.
    Â«Die

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