Das weisse Horn
jenes Gestein
enthalten, das von den Bergen verschwunden war. Man
hätte die oberste Decke der Stufe durch einen Schürf oder
einen Schacht durchstoßen können, da sie nicht stärker als
dreißig Meter war.
Um aber eine derartig kostspielige Arbeit durchzuführen,
müßte man zumindest annähernd wissen, was die ver-
schwundene Oberschicht der Berge enthielt. Antwort auf
diese Frage konnte nur das Weiße Hörn geben. Auf sei-
nem unbesteigbaren Gipfel hatte sich eine kleine Lage
dieser Oberschicht erhalten. Die Grenze zwischen dem
dunklen metamorphen Gestein** und der rätselhaften
weißen Schicht war deutlich zu erkennen. Aber der Berg
war wie verzaubert. Soviel Ussolzew auch in dem Geröll
am Fuß des Berges suchen mochte, er fand kein Stückchen,
das vom Weißen Hörn abgebröckelt war. Es mußte ein
ewiges, unzerstörbares Gestein sein, aus dem das Weiße
Hörn bestand. Aber gerade am Fuße des Ak-Mjungus
waren zwei große Kassiteritkristalle gefunden worden.
* Angeschwemmte Erdschicht.
** Durch große Hitze oder Druck umgewandeltes Ablagerungs- und Aus.
wurfgestein.
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Nein, das Geheimnis des Weißen Horns mußte enthüllt
werden, koste es, was es wolle!
Nur auf diesem Gipfel lag der Schlüssel zu den Erz-
schätzen, die vielleicht hier unter der Steppe begraben
waren.
Zinn! Wie notwendig braucht es unser Land! Der Geo-
loge war sich dessen voll bewußt. Was die anderen
nicht geschafft hatten, ihm mußte es gelingen. Sie hatten
von der Wichtigkeit dieser möglichen Entdeckung nichts
gewußt.
Die Gehilfen Ussolzews schliefen, durch die Arbeit des
Tages ermüdet, schnell ein. Die reine, kalte Luft sank auf
die warme Erde, und in grünen Kaskaden floß das Mond-
licht über die dunklen Schluchten.
Ussolzew lag etwas weiter weg von den Zelten, wandte
seine brennenden Wangen dem Wind zu und versuchte
einzuschlafen. Er durchlebte noch einmal den erfolglosen
Versuch, das Weiße Hörn zu besteigen. Er hielt seine Ret-
tung vor dem unvermeidlichen Absturz für ein Wunder
und wußte gleichzeitig, daß er es wieder versuchen
würde. „Sofort im Morgengrauen!" beschloß er. „Ehe noch
der Mond untergeht, muß ich mir Haken besorgen."
Er erhob sich, ging vorsichtig zwischen den Spannseilen der
Zelte zu der Kiste mit der Ausrüstung und begann in ihr
herumzuwühlen, wobei er jedes Geräusch sorglich vermied.
Von dem weiter entfernten Zelt hörte man leises Singen.
Ussolzew lauschte und erkannte Wera Borissownas
Stimme.
„Erfährst du, mein Fürst, der Sehnsucht großes Leid und
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meine tiefe Trauer...", klang es leise über die vom blei-
chen Mondlicht übergossene Steppe.
Ussolzew klappte den Dedcel zu und kehrte an seinen
Platz zurüde. „Nein, ich werde noch ein Weilchen warten,
bis sie abfährt. Wenn ich abstürze, wird sie — weiß Gott —
noch glauben, daß ich ihretwegen hinaufgekrochen bin,
zumal wir noch dieses Gespräch über den Everest vor ein
paar Tagen hatten. Ein schöner Everest von dreihundert
Meter Höhe!"
„Wohin fahren wir heute, Oleg Sergejewitsdi?" fragte der
Arbeitsleiter am nächsten Tag.
„Nirgendshin. Das Planquadrat ist zu Ende. Ich gebe Ihnen
zwei Tage Zeit, um Ihre Geländevermessungen und Kol-
lektionen in Ordnung zu bringen, dann fahren Sie nach
Kirgis-Sai und holen das Fahrzeug."
„Wir kommen also näher zur Grenze?"
„Ja, nach Takyr-Atschinocho."
,,Das ist gut, da gibt's schöne Stellen. Die Berge sind
höher, und auch Gehölz ist da. Dort ist es anders als hier
in dieser Hölle. Und Sie? Werden Sie sich heute aus-
ruhen?"
„Nein, ich werde die Gesteinsverschiebung entlangreiten."
„Zum Ak-Mjungus?"
,Nein, etwas weiter."
„Wissen Sie, ich vergaß Ihnen etwas zu sagen. Als ich in
Ak-Tam war, erzählte mir der Chef einer Grenzabteilung,
daß Bergsteiger versucht hätten, den Ak-Mjungus zu be-
steigen. Es kamen Spezialisten aus Alma-Ata hierher..."
„Na, und?" unterbradi ihn Ussolzew ungeduldig.
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„Es kam nichts dabei heraus. Sie haben festgestellt, daß
das Weiße Hörn absolut unbesteigbar ist."
Eine leichte Staubwolke zog hinter dem Braunen her;
Ussolzew ritt fort, um seinen unbesiegbaren Gegner zu
studieren, über ihm ragte das Weiße Hörn in seiner gan-
zen gewaltigen Größe wie ein furchtbarer Stier, der den
anstürmenden Wellen des steinernen Meeres zu entrinnen
versucht.
Der Wind wehte ganze Haufen stachliger Gewächse an den
Fuß des Berges. Die Stirnwand des Felsens glänzte
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