Das weisse Horn
In der Mitte des Tals lag wie ein ebener grüner
Teppich ein moosiger Sumpf ohne ein einziges Bäumchen.
An seinen Rändern aber erhoben sich hohe Zirbelkiefern.
An der einen Seite der Zweige beraubt, streckten diese
Bäume mächtige Äste nach dem „See der Berggeister" aus.
Niedrige, dunkle Wolken jagten über den Zirbelkiefern
dahin, als eilten sie dem geheimnisvollen See zu.
Der vierte See war klein und rund. Aus dem Bläulich-
grauen, gekräuselten Wasser ragten spitze Steine. Dann
gerieten wir in dichtes Zirbelknieholz, und nach weiteren
zehn Minuten standen wir am Ufer des „Sees der Berg-
geister". Aschgraue Trauerfarbe .lag auf dem Wasser und
auf den Schneehängen der Gebirgskette. Trotzdem er-
kannte ich sofort den „Tempel der Berggeister", der meine
Phantasie einige Jahre zuvor so stark angeregt hatte.
Bis zu den stählern schillernden Felsen am Fuß des Kegel-
berges zu gelangen, war nicht leicht. Aber alle Mühsale
vergaßen wir augenblicklich, als der Geologenhammer mit
hellem Klingen das erste schwere Stück Zinnober von der
Felswand schlug. Etwas weiter von uns entfernt, senkten
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sich die Felsen in abschüssigen Stufen zu einer kleinen
Mulde, über der leichte Wölkchen aufstiegen. Die Mulde
war angefüllt mit trübem, heißem Wasser, ringsum spran-
gen aus tiefen Spalten heiße Quellen und hüllten ihren
Rand in Nebel.
Ich gab Krassulin den Auftrag, eine ungefähre Skizze des
erzhaltigen Abschnitts anzufertigen, und drang dann mit
einem Arbeiter durch den Nebelschleier zum Fuß des
Berges vor.
„Was ist dort?" fragte mich plötzlich der Mann.
Ich blickte in die angegebene Richtung. Halb verborgen
hinter Steinen schimmerte in mattem, unheilverkünden-
dem Glanz ein kleiner Quecksilbersee — mein Wirklich-
keit gewordenes Phantasiegebilde. Die Oberfläche des
kleinen Sees war gewölbt. In unbeschreiblicher Erregung
beugte ich mich über seine elastische Oberfläche und dachte
— die Hand tief in die fortgleitende, nicht zu greifende
Flüssigkeit tauchend — an einige tausend Tonnen flüssigen
Metalls, mein Geschenk an die Heimat.
Krassulin, der auf meinen Ruf herbeikam, war stumm vor
Freude. Doch mußte ich die Begeisterung zügeln und meine
Begleiter zur Eile antreiben. Schon wurde der Kopf schwer,
und der Mund brannte — das waren die gefährlichen An-
zeichen einer beginnenden Vergiftung.
Ich photographierte die wichtigsten Stellen. Ein Arbeiter
füllte eine Flasche mit Quecksilber. Krassulin und der
andere Arbeiter nahmen eilig Vermessungen an dem erz-
haltigen Gestein und dem See vor. Alles wickelte sich mit
Blitzesschnelle ab, trotzdem gingen wir auf dem Rückweg
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langsam und schleppend und mußten gegen die auf-
steigende Bedrückung und Angst ankämpfen. Während wir
mühselig um den See zogen, teilten sich die Wolken, und
vor unseren Äugen enthüllte sich der funkelnde, kantige
Gipfel. Schräge Sonnenstrahlen brachen durch das Tor der
fernen Schlucht. Das „Tal der Berggeister" war in blendend
helles Licht getaucht. Ich wandte mich um und sah an der
Stelle, die wir erst vor wenigen Augenblicken verlassen
hatten, nebelhafte, dunkelblau-grüne Säulen aufsteigen:
die sagenhaften Berggeister der Oiroten. Sie glichen dro-
henden, menschlichen Gestalten, die uns scheinbar über-
wältigen und mit ihrem giftigen Atem töten wollten.
Nur wenige Augenblicke starrten wir entsetzt und gebannt
auf diese gespenstische Erscheinung — dann rissen wir uns
los und flohen aus dem Tal. Mit letzter Kraft erreichten
wir unsere Pferde.
Noch am selben Tag stiegen wir zum dritten See hinab. In
der beginnenden Dämmerung reckten sich uns drohend die
Zweige der Zirbelkiefern entgegen, als wollten sie, uns
aufhalten. In der Nacht fühlten wir uns nicht ganz wohl,
aber im allgemeinen lief alles gut ab.
Ich brauche nicht mehr viel hinzuzufügen. Der Zaubersee
liefert heute der Sowjetunion eine solche Menge Queck-
silber, daß alle Anforderungen unserer vielseitigen Indu-
strie befriedigt werden, und die Berggeister können heute
den Menschen nicht mehr schaden.
Ich aber bewahre für mein ganzes Leben die dankbare
Erinnerung an die hohe Kunst des Malers Tschorossow,
des furchtlosen Suchers nach der Seele der Berge.
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Copyright 1952 by Verlag Kultur und Fortschritt GmbH., Berlin.
Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Lizenz-Nr. 3.
Einband und Textillustrationen:
Verlagsentwurf — Rudi Lehmann.
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