Das weiße Krokodil
der mich hätte über den Fluß setzen können: deinen Mann! Und ausgerechnet er kennt einen von der Welt abgeschiedenen und dazu noch ganz außergewöhnlich beschaffenen Platz, der es mir in schönster Weise gestattet, mein Gelübde zu erfüllen. Bitte, versuche deshalb nicht weiter, mich von meinem Vorhaben abzuhalten. Man soll dem Menschen nur von Dingen abraten, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann.«
II
Die väterlich gesprochenen Worte Tie-ties, die durchaus dazu angetan waren, Vertrauen zu erwecken, überzeugten die besorgte Chinesin in keiner Weise. Sie konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß sich der liebenswerte alte Mönch in den Dschungel zurückziehen und dort einer Gefahr aussetzen wollte, die ihrer Meinung nach zu einer Katastrophe führen mußte. Die Vorstellung erregte sie so sehr, daß sie in ihrer Verwirrung einige Wäschestücke ergriff und zum Fluß hinuntereilte, um sich durch Arbeit abzulenken.
Ihr Mann blickte verständnislos hinter ihr her. »Ich begreife Sims Aufregung nicht. Jeder Mensch weiß doch, daß ein Krokodil nur gefährlich wird, wenn man es reizt. Oder wenn es Hunger hat. In den Klongs aber gibt es genügend Krebse und Fische. Der Japaner hatte selbst Schuld. Er wollte seinen Mut unter Beweis stellen und ging angesichts des am anderen Ufer in der Sonne liegenden weißen Krokodils ins Wasser. Aber… Vielleicht hätte ich doch nicht über die fast schon in Vergessenheit geratene Pagode sprechen sollen«, schloß er plötzlich wenig konsequent.
»Das mußtest du tun«, entgegnete der greise Tie-tie, wobei er den halbnackten Kindern zublinzelte, die noch immer auf dem Boden saßen und ihn wie ein Wunder anstarrten. »Der Himmel war es, der dir die Worte in den Mund legte.«
»Du glaubst, daß er mich deshalb vom Kuku-nor hierhergeschickt hat?«
Tie-tie schüttelte den Kopf. »Nicht deshalb. Alles in der Welt hat vielerlei Gründe. Denke nur daran, daß du deine Frau hier kennengelernt hast. Du warst für sie und sie war für dich auf die Erde gekommen; du mußtest somit den weiten Weg gehen, um sie zu finden.«
Yen-sun blickte verträumt vor sich hin. »Das ist eigentlich ein schöner Gedanke. Sag das nachher auch Sim. Es wird sie glücklich machen.«
Tie-tie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Mir scheint, du möchtest der Nutznießer sein.«
Der junge Chinese lachte aus vollem Halse. »Was ein ehrwürdiges Mönchlein nicht alles weiß! Doch nun zu dir: Was führte dich in meine Heimat und hierher?«
»Das ist mit wenigen Worten nicht gesagt und gehört zu der von mir bereits erwähnten langen Geschichte, an deren Ende mein Gelübde steht.«
»Erzähle sie mir«, bat Yen-sun.
Tie-tie strich über seinen spärlichen Bart. »Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen, aber da unsere Wege sich schicksalhaft kreuzten, hast du wohl ein Anrecht darauf, zu erfahren, warum ich zunächst zum Kuku-nor und dann von dort nach Malaya gewandert bin. Zeit steht uns ja genügend zur Verfügung.«
»Mehr als Geld!« warf Yen-sun trocken ein.
»Worüber wir uns freuen wollen, da alles Gold der Erde kein friedliches Leben zu ersetzen vermag«, warnte Tie-tie mit erhobenem Finger. »Doch nun muß ich überlegen, wo ich mit meiner Erzählung beginnen soll. Am besten in Lhasa, da dir sonst manches nicht verständlich sein wird.«
»Warst du dort zu Hause?« erkundigte sich Yen-sun und lehnte sich erwartungsvoll zurück.
Der greise Tie-tie nickte und schloß die Augen, um mit der Schilderung eines Ereignisses zu beginnen, das über sechs Jahre zurücklag. Im Geiste erlebte er nochmals jenen ungewöhnlich heißen Tag, an dem sich über der Hauptstadt Tibets eine rostbraune Dunstschicht gebildet hatte, die sich in der Mittagsstunde so sehr verdichtete, daß es aussah, als wolle die Natur zwischen der religiösen Metropole des lamaitischen Buddhismus und dem Himmel eine jedem sichtbare Trennung vollziehen. Das Licht des Tages verblaßte, und viele der ungezählten Mönche, die bis zu dieser Minute mit schlaffen Schritten durch die glühenden Straßen der zum ›Göttersitz‹ erkorenen Stadt gepilgert waren, blickten erschrocken zur Sonne empor, die im wallenden Dunst einem blauroten, auf die Erde herabstürzenden Feuerball glich.
Drohte Lhasa Unheil, weil die Suche nach dem 14. ozeangleichen Oberpriester des tibetischen Buddhismus bis zur Stunde erfolglos verlaufen war? Der Geist des 13. Dalai-Lama war vor fast zwei Jahren in die
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