Das weiße Krokodil
Skulpturen zu schminken und ihnen eine Zigarette zwischen ihre rot angemalten Lippen zu drücken.
Die furchtbarste Schändung aber entdeckte Tie-tie an einem Tage, da er unmittelbar nach der Abfahrt des Schiffes den im Nirwana- Zustand dargestellten Buddha aufsuchte. Was er in diesem Augenblick sah, traf ihn wie ein Keulenschlag: der Erhabene war seiner Füße beraubt!
»Allmächtiger!« schrie er in ohnmächtigem Schmerz und warf sich über die Figur, als wolle er sie schützen. »Wie kannst du solchen Frevel zulassen? Dein Auge sieht doch alles! Warum hast du den Täter nicht auf der Stelle vernichtet? Om mani padme hum! Was soll nun werden? Ich bin mitschuldig. Ja, ich bin mitschuldig, weil falscher Stolz mich hinderte, bei den Ausflüglern zu bleiben. Hätte ich mich nicht zurückgezogen, wäre dies nicht geschehen. Die Sandelholz-Pagode ist entheiligt! Das ist das Ende, das Ende…«
Tie-tie fühlte seine Kräfte schwinden. Kreise tanzten vor seinen Augen. Er glitt zu Boden, lehnte seinen Kopf an die Statue und dachte: Nicht jetzt und nicht hier. Ich bin nicht würdig…
Ohnmacht umfing ihn, aus der er erst am Abend wieder erwachte.
Der Anblick des geschändeten Buddhas verkrampfte sein Herz. Er betete, weinte und schlurfte gebrochen nach draußen.
Die Sonne war bereits untergegangen. Vom See wehte eine leichte Brise herauf. Der Klang der Windglöckchen aber war verstummt. Zu hören war nur das Rascheln des umherliegenden Papieres, mit dem der Abendwind gespenstisch spielte.
Die Nacht wurde für Tie-tie zur Qual. Halb wachend, halb schlafend, grübelnd und betend glitt er dem Morgen entgegen. Die Vorstellung, mitschuldig geworden zu sein, raubte ihm die Ruhe und weckte Selbstanklagen, in die er sich so hineinsteigerte, daß er zu der Überzeugung gelangte, nicht allein durch Unterlassungen, sondern auch durch die Art seines Wirkens eine echte Schuld auf sich geladen zu haben.
Sie ist nur in zweiter Linie bei den Ausflüglern zu suchen, sagte er sich. Die Hauptschuld liegt bei Yen-sun und mir. Beide sind wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, mit der gleichen Unerbittlichkeit einem Phantom nachgejagt; nur mit dem Unterschied, daß Yen-sun den Reichtum auf Erden zu erringen wünscht, während ich mich nach der Seligkeit im Jenseits sehne. Beide verloren wir unsere Gelassenheit, wodurch wir, wie so viele Materialisten und Idealisten, unduldsam wurden. Und diesen Fehler begingen wir angesichts der Schönheit der Erde und des erregenden Wissens, uns auf einem Weg zu befinden, der von der Geburt zum Tode führt.
Als der Morgen graute, fiel es Tie-tie schwer, sich zu erheben. Er zwang sich jedoch, seinen täglichen Pflichten nachzugehen, und umwanderte die Pagode, obwohl es ihm zeitweilig so übel wurde, daß er Halt an der Mauer suchen mußte.
Dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen, sich wieder hinzulegen. Er wollte nicht grübeln und denken, sondern versuchen, sich durch kleine Aufräumungsarbeiten abzulenken. Von Schwäche übermannt, mußte er sie aber oftmals unterbrechen. Er setzte sich dann auf die Steintreppe und blickte wehmütig zu der Stelle hinüber, an der das immer seltener erscheinende Krokodil früher täglich aus dem Wasser herausgekommen war.
Vorbei, vorbei! Und er hatte davon geträumt, daß seine Seele dermaleinst vom weißen Krokodil fortgetragen würde – weit hinaus auf das Meer, dem Nirwana entgegen…
War es Zufall oder Schicksal? In einem Augenblick, da Tie-tie auf einer Stufe sitzend solchen Reminiszenzen nachhing, hörte er plötzlich das unverkennbare »Tschip-tschip-hooiiit« des Trochylus, und gleich darauf entdeckte er die Kiellinie des weißen Krokodils, das zügig auf das Ufer zuschwamm, dort einen Moment verharrte und dann langsam an Land kroch.
Tie-tie hastete mit wehender Kutte die Steintreppe hinunter.
Das Krokodil glotzte ihn an› als wolle es sagen: Warum so eilig? Es kann uns doch niemand stören.
»Wie schön, daß du gekommen bist!« rief Tie-tie, als er seinen angestammten Platz erreicht hatte. »Gerade heute! Wenn du wüßtest…« Er unterbrach sich und griff sich nach dem Herzen.
Das weiße Krokodil legte den Kopf wie lauschend zur Seite.
»Dein Kommen gibt mir neue Kraft«, fuhr Tie-tie nach kurzer Pause, während der er einige Male tief Luft geholt hatte, mit schwacher Stimme fort. »Heute morgen glaubte ich schon… Aber jetzt geht es mir wieder besser. Nur manchmal…« Er stockte und strich sich über die Stirn. »Manchmal…«
Das weiße
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